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Die Herbergsuche

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Am Vorabend und während der Nacht hatte es dicht geschneit, und nun lag der Schnee schon hoch auf den Wegen und rundum im Park der Heilstätte. Auch tagüber setzte sich das Wintertreiben fort und schuf weihnachtliche Stimmung. Aber noch war Advent, die Zeit des Wartens, oftmals so innig wie die Weihnacht selbst. Das Menschenkind ist auf der Reise und bald werden Maria und Josef die Stätte suchen gehen, wo es geboren werden soll.

In den Alpenländern hat sich für die letzte Adventwoche die Sitte des Herbergsuchens erhalten, und auch die geistlichen Schwestern, die in der Heilstätte den Krankendienst versahen, übten den frommen Brauch. Ihre Oberin nahm am Abend, der schon in die Nacht überglitt, ein kleines wächsernes Jesukindlein, wie es die Wachszieher — es sind nur noch ihrer wenige — so schön zu formen und zu färben verstehen, und trug es von ihrem Zimmer im Altbau, dem großen Trakt der Heilstätte, nach dem Schwesternzimmer im Neubau, der viel später erbaut worden und kleiner als der Altbau war. Alle Schwestern außer jenen, die Nachtdienst halten mußten, begleiteten sie, vorn ging eine mit der brennenden Laterne, um den Weg zu erhellen. Es war ein Zug an diesem kalten Abend, der das Herz erwärmte, und es sahen ihm auch alle Kranken des Altbaues nach, ob sie nun christlich gesinnt waren oder nicht; er bewegte ihr Inneres.

Nachdem sie in den Neubau eingetreten waren, fingen sie ein Adventlied zu singen an, und sie sangen dann noch im Schwesternzimmer kniend vor dem Kindlein, das jetzt seine Krippe gefunden hatte.

Am nächsten Abend sollte der kleine wächserne Menschensohn in das Heim der Schwestern getragen werden, das gegenüber dem Neubau lag. Die Oberin genügte mit ihren Schwestern am Tage dem Krankendienst. Als sie nun am Abend alle kamen, das lesukindlein zu holen, war das Bildnis verschwunden. Sie hätten gern an ein Wunder geglaubt, doch schien es zunächst ratsam, nach dem Jesuknaben zu suchen. Aber keine Schwester fand ihn, auch nicht die Oberin. Da gingen sie, voran die eine mit der Laterne, ohne ihn nach dem Schwesternheim. Es war viel Traurigkeit in ihren Seelen, als aber die Oberin das Adventlied anstimmte, fielen die Schwestern ein, und der Gesang, der jetzt in die Nacht tönte, war von einer solchen Feierlichkeit, wie sie der gestrige Zug nicht hatte erbringen können.

Sie beteten dann vor dem leeren Kripplein, das sie aufgestellt hatten, und seltsam ergreifend, noch nie waren sie dessen bewußt gewesen, empfanden sie die Herbergsuche Josefs und Mariens nach, dieses vergebliche Anklopfen überall des Mannes und das ängstliche Warten der Frau mit dem hohen Leib, der den Herrn der Welt trug.

Es war ihrer Herbergsuche aber doch ein Wunder aufgespart, und es brach so unversehens über sie herein, daß sie es tiefer in sich fühlten, als es sie vielleicht noch vor einer Stunde, da sie das Fehlen des Kindleins entdeckt, angerührt hätte. Es pochte an die Eingangstür, und es war kein Pochen einer Frauenhand. Die Oberin, die inmitten ihrer Schwestern kniete, sah auf und erhob sich rasch, ihre Miene drückte Ueberraschung aus. Diese Räume waren Klausur, kein Mann durfte sie betreten. Die Nachtdienstschwestern waren so wie gestern nicht unter ihnen, also brauchte sie der diensthabende Arzt nicht zu holen. Er hätte sie auch durch das Telephon gerufen. Es mußte etwas Ungewöhnliches geschehen sein.

Die Oberin war eine beherzte Frau, sie sagte: „Ich gehe öffnen.“ Die Schwestern, ein wenig furchtsam, folgten ihr stumm. Sie schloß die Tür auf. Draußen stand ein Mann. Es war einer jener Kranken, der immer gespöttelt hatte über jede Andacht und alles Religiöse, die Oberin kannte ihn, und sie fragte etwas barsch: „Was wollen Sie? Hier ist Klausur.“

Der Mann nickte und hob seine Hände. „Was wollen Sie?“ wiederholte die Oberin milder.

Da streckte er seine Arme aus und die Oberin und die Schwestern sahen das wächserne Jesukindlein in seinen Händen liegen, die sich leicht gewölbt, wie schützend, um den Leib des Menschensohnes schlössen. „Ich habe gedacht, es sei Götzendienst“, sagte er, „und ich stahl die Figur während des Abendessens. Aber dann fand ich keine Ruhe. Als spräche das Kindlein zu mir, so war's. Es wollte wieder in seine Krippe. Ich habe es auch hineingelegt. Aber das war nicht genug. Ich mußte es noch einmal holen gehen und hierher tragen.“ Er hielt den Schwestern das Kindlein hin.

Die Oberin zögerte, das Wachsbild zu nehmen, eine nie gekannte Scheu befiel sie. Dann aber ergriff sie es und barg es an ihrer Brust. Sie spürte ihre Augen naß werden, aber sie beherrschte sich und vermochte die Tränen zu stillen, bevor sie noch geflossen waren. Und als ob ein anderer, ein Höherer aus ihr spräche, kam es ihr vor, als sie sagte: „Wir werden das Jesukind heute wieder im Neubau zur Ruhe legen. Morgen erst soll es in unserem Heim schlafen.“

So gingen sie zurück nach dem Schwesternzimmer des Neubaues. Der Mann leuchtete ihnen mit der Laterne, und ihr Gesang, zu Anfang schwankend, noch im Banne des leisen Schreckens, der sie erfaßt hatte, erhob sich dann klar und jubelnd in der Winternacht. Und als sie das Jesulein in seine Krippe gelegt und sich niederknieten, um ihr Gebet zu verrichten, hielt es auch der Mann so, und sie wollten ihn nicht von sich weisen, nur aus dem Grunde, weil bei ihrer Andacht etwa noch ein Priester hätte anwesend sein dürfen, sonst niemand. Aber heute hatte Gott zu ihnen gesprochen durch den Mund eines Sünders, der nun bekehrt war, und sie hatten Ihn gehört und waren voll des Glaubens an neue Wunder, die Er noch tun wollte bis ans Ende ihrer Tage, und sei es nur das eine: daß Sein Sohn im Stall zu Bethlehem geboren werde, wie immer Jahr um Jahr.

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