6853582-1977_05_10.jpg
Digital In Arbeit

Der Stellvertreter

Werbung
Werbung
Werbung

An der Ostgrenze unseres Landes, tief im Gebirge, lebte irgendwann in einem der vielen Klöster, die es dort gibt, ein besonders frommer Mönch. Nächst dem dreieinigen Gott und der allerseligsten Jungfrau widmete der Mönch seine vorzügliche Verehrung dem heiligen Floris, zu dem er sich aus unbekannten Gründen hingezogen fühlte. Der Abt sah diese Verehrung gern, denn er wußte, daß Gott und die Jungfrau wohl das Ziel sind, dessen Anschauung der Lohn der Auserwählten sein wird, unsere Heiligen aber jeder einen der vielen Wege verkörpern, die zu diesem Ziel führen. Warum jedoch sollte ein neuer Heüiger seine ersten Schritte nicht in den Fußstapfen eines beglaubigten und bewährten Vorgängers tun, bis er im Licht der Gnade einen eigenen Weg erkannte? Der heilige Floris war einwandfrei kanonisiert und durch zahlreiche Wundertaten bewährt, wenngleich ein wenig in Vergessenheit geraten, aus der ihn zu erwecken bestimmt verdienstvoll war.

Da das Kloster zwar berühmt und reich, sonst aber keines von den ganz strengen war, beherbergte es nicht nur künftige Heüige, sondern vor allem Menschen, die sich zu einer beschaulicheren Lebensweise hingezogen fühlten und den Gefahren eines weltlichen Lebens ausweichen wollten, ohne deshalb besonders fromm zu sein. Die landläufigen Versuchungen wenden sich ja durchwegs an die bescheiden möblierten Gemüter des unteren Durchschnitts, und die Abkehr von ihnen zeugt oft nur von Intelligenz und gutem Geschmack. Auch darum wußte der Abt. Der gute Gärtner harkt den Mist und läßt die Früchte reifen, dachte er und kleidete diese Überlegungen manchmal in wohlgesetzte Worte, denn von Mist pflegte er höchstens im Zusammenhang mit Satan und der Hölle zu sprechen.

Keinesfalls hätte der Abt das Wort Mist auf den Zellennachbar des frommen Mönchs angewandt. Dieser Nachbar zählte, was die Frömmigkeit betraf, eher zu jenen, die sie wie eine gute Umgangsform respektieren, war aber fast ein Gelehrter, einer der beliebtesten Lehrer der Klosterschule und im übrigen einer von den praktischen Menschen, deren auch ein Kloster nicht völlig entbehren kann. Seinen religiösen Pflichten kam er selbstverständlich nach, wie es die Ordensregel verlangte, aber alles, was darüber hinausging, nannte er bei sich ein überflüssiges Getue. Der Verehrer des heiligen Floris nebenan ging ihm auf die Nerven. Die Wände waren dick, und natürlich brüllte der fromme Mönch bei seinen Gebeten nicht. Trotzdem empfand der Nachbar die Stille, die dort drüben herrschte, wie ein Loch in der Welt. Er hielt den frommen Mönch einfach für einen Drückeberger, der den heiligen Floris vorschützte, um ungestört von sinnvollen Aufgaben durch die Wälder zu der kleinen Kapelle zu spazieren, die er dem heiligen Floris an einem der schönsten Aussichtspunkte der Umgebung errichtet hatte.

Im Laufe der Jahre steigerte sich die Abneigung des-Nachbarnzu richtigem Haß, der sich irgendwo entladen mußte, wenn der von ihm Geplagte nicht platzen wollte. Dennoch war auch der Nachbar kein wirklich böser Mensch, der zu einem wirklich bösen Entschluß fähig gewesen wäre. Einen Streich wollte er dem eifrigen Beter allerdings schon spielen, und so kam ihm der Einfall, sich als der heilige Floris zu verkleiden und seinem Verehrer an geeigneter Stelle ein paar Deutlichkeiten hineinzusagen.

Die geeignete Stelle war ein Felsen, um den der Waldweg zur Floriskapelle in scharfem Knick bog, und die geeignete Zeit eine frühe Dämmerstunde im Spätherbst, als dort aus dem Tal der Nebel heraufwallte. Hinter diesem Felsen hervor trat der Nachbar, angetan mit einem ausgedienten Chorrock, im Arm die Attribute des heiligen Floris und ums Kinn einen falschen Bart aus dem Fundus des Schülertheaters, dem frommen Mönch entgegen, der ihn sofort erblickte und auch schon auf die Knie sank.

Eben wollte der Nachbar mit seinen Deutlichkeiten beginnen, da kam ihm der fromme Mönch zuvor und fing zu beten an. Das war dem Nachbarn einerseits peinlich, anderseits war er aber doch neugierig zu erfahren, wie es um eine solche Verehrung tatsächlich bestellt ist Nach einigen Worten aber reute ihn bereits sein Vorwitz, denn das Gebet des frommen Mönchs entwickelte eine solche Macht, daß es den falschen Heiligen fast davontrug. Es rüttelte wie ein Sturm an ihm, ein Sturm von Liebe und hohen Gedanken. Ein Feueratem ging von dem Beter aus und drohte den armen Nachbarn, welcher derlei bis dahin als Legenden und Literatur beiseite geschoben hatte, in Brand zu setzen, und bestimmt wäre das ein ähnlicher Brand geworden wie derjenige, von dem der fromme Mönch glühte. Davor aber scheute der Nachbar, soweit war er noch nicht, und er wich daher vorsichtig gegen den Felsen zurück, um sich, wie er hoffte, im Schutz der nächsten dichten Nebelschwaden unbemerkt abzusetzen.

Bevor dem Nachbarn die Flucht gelang, bewirkte jedoch eine schlichte Wurzel das, was das Gebet des frommen Mönchs verfehlt hatte: Sie brachte den Nachbarn aus seinem ohnehin bereits gestörten Gleichgewicht, er stolperte nach hinten, stürzte und rollte, da ihn der schmale Pfad nicht hielt, den steilen Hang hinunter. Dort fing ihn sehr bald ein Baum auf, während die Attribute des heiligen Floris noch ein Stück weiterkollerten. Der Theaterbart war schon vorher im Unterholz hängengeblieben.

Je höher der demontierte Nachbar den Abhang schließlich wieder hinaufkroch, desto tiefer schämte er sich. Nicht nur, daß er in schnödem Weltsinn den Glauben des frommen Mönchs so sehr unterschätzt hatte: nicht nur, daß er mit der verehrungswürdigen Gestalt eines Heiligen ein unheiliges Spiel getrieben hatte: das Schlimmste, schien ihm, würden die Folgen dieses Ausgangs der Maskerade für den frommen Mönch sein, die Folgen der Erkenntnis, wie leicht man echten Glauben - und gerade dann, wenn er sehr groß ist! - einem falschen Gegenstand schenken kann.

Der fromme Mönch, der oben am Wegrand stand und dem hinaufkriechenden Nachbarn entgegenblickte, machte auch runde Augen, als er erkannte, um wen es sich da handelte. Dann aber, als der Nachbar endlich in Reichweite war, streckte er ihm die Hand hin und half ihm zu sich hinauf.

„Hast du dich verletzt, Bruder?” fragte er besorgt.

Dem Nachbarn blieb bei dieser Frage der Mund offenstehen. „Nein, nein”, würgte er zuletzt hervor, und dann war er es, der auf die Knie sank und irgend etwas von Entschuldigung, Vergebung und Absolution stammelte.

„Steh auf1, sagte der fromme Mönch. „Ich habe dir nichts zu verzeihen. Wenn du aber willst, kannst du mich morgen zur Kapelle des heiligen Floris begleiten und ihm für das große Wunder danken, das er durch dich gewirkt hat.”

„Durch mich?” staunte der Nachbar.

„Indem er sich”, erklärte der fromme Mönch geduldig, „erst deiner scheelsüchtigen Gedanken und dann deines Leibes bediente, um mir zu erscheinen.”

Der fromme Mönch wurde später in der Tat ein nicht weniger echter Heiliger als der heilige Floris und bekam einen schönen Platz im Kalender. Der Nachbar aber war noch bei seinen Lebzeiten sein erster und eifrigster Verehrer.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung