7022410-1988_49_20.jpg
Digital In Arbeit

Die Abschaffung von Weihnachten

Werbung
Werbung
Werbung

Ein eisiger Wind wehte über den Stephansplatz. Er ließ ein Transparent, das oberhalb des Riesentores über die ganze Nordfront des Domes gespannt war und dessen Ende sich an einer Seite gelöst hatte, von Zeit zu Zeit flattern wie einen riesigen gefangenen Vogel. Ohne diese Bewegung wäre Herrn K. das Transparent vielleicht gar nicht aufgefallen, als er im Grau eines noch jungen Dezembertages seinem Büro zustrebte. Mit einem Anflug von Ärger nahm er die Schrift auf dem Leinen wahr: HEUER KEIN WEIHNACHTSFEST.

Der Ärger über den offensichtlichen Lausbubenstreich verflog, während Herr K. seinen ersten Bürokaffee schlürfte. „Wahrscheinlich wieder so eine Aktion der Grünen, aber daß sie jetzt auch die Kirche und den Steffi -“ K.s Blick erstarrte, als er auf die Zeitungen vor ihm fiel. Die üblichen fetten Lettern des Aufmachers sprangen ihn an: WEIHNACHTEN ABGESCHAFFT! Darüber, in der dem Blatt eigenen Ausdrucksweise, die Frage: DREHT DIE KIRCHE DURCH?

Die anderen Zeitungen, die Herr K. fieberhaft durchblätterte, brachten die gleiche Nachricht, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Ein Blatt sah das Ende des christlichen Abendlandes gekommen, ein anderes machte sich Sorgen um Wirtschaftswachstum und Fremdenverkehr, ein Parteiblatt stellte eine Intervention der Regierung im Vatikan in Aussicht. Aber jeder Zweifel war ausgeschlossen: Weihnachten war abgesagt.

Gründe dafür waren aus den Zeitungen nicht zu erfahren. In den Radionachrichten war die Abschaffung von Weihnachten die Spitzenmeldung, allerdings ebenfalls ohne Angabe von Gründen für diese kirchliche Maßnahme. K. wies seine Sekretärin an, daß er nicht gestört zu werden wünsche, und zog das Telefon an sich heran.

Er erreichte seinen Pfarrer, als dieser sich eben auf den Weg zur Schule machen wollte. Aber der wußte noch weniger als er selbst; er hatte noch nicht einmal die Zeitungen gelesen und wollte K.s Darstellung nicht glauben.

Kurz entschlossen wählte K. die Nummer des erzbischöflichen Palais. Der Herr am Telefon war zwar sowohl besser informiert als auch freundlich, wollte aber weder einen Grund nennen noch mit dem Herrn Erzbischof verbinden. Ein Sekretär des Kardinals, zu dem K. endlich vordringen konnte, wollte „einer Erklärung des Herrn Kardinals nicht vorgreifen“, im übrigen könne er aber den Herrn Kardinal erst in einer Woche stören, weil dieser, wie jedes Jahr vor Weihnachten, sich zu Exerzitien zurückgezogen habe.

Es knisterte und knackte in der Leitung, dann meldete sich eine brummende Stimme: „Portier.“ K. wollte bereits mit einer Entschuldigung auflegen, besann sich aber und fragte: „Wissen Sie vielleicht, weshalb heuer Weihnachten ...?“ Die brummende Stimme fiel ihm ins Wort: „Weihnachten heißt, daß Gott Mensch geworden ist. Ihr aber habt Konsum und Geld zu Eurem Gott gemacht.“

Die brummende Stimme hatte aufgelegt, und Herr K. nur noch das Besetztzeichen im Ohr. Es hörte erst auf, als K., erwachend, seinen Wecker zum Schweigen brachte.

Nach einem hastig getrunkenen Kaffee machte er sich auf den Weg in sein Büro.

Ein eisiger Wind wehte über den Stephansplatz. Er ließ ein Transparent, das oberhalb des Riesentores über die ganze Nordfront des Domes gespannt war und dessen Ende sich an einer Seite gelöst hatte, von Zeit zu Zeit flattern wie einen großen gefangenen Vogel.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung