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Die Flucht auf die Felder

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Es erscheint mir immer wieder JL^wie ein Wunder: Ein Getreidefeld in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen. Da ist zunächst der kahle graubraune Ak-ker, eben erst vom Schnee befreit. Dann überzieht sich die ganze Fläche mit einem zarten Grün, das zusehends, von Tag zu Tag, dichter wird. Die jungen Triebe sprießen empor, bis sich dann die ersten Ansätze der Ähren bilden, die zusehends fester werden und sich dem Reifegrad nähern.

Sobald ich neben einem Getreidefeld dahinwandere, werden Erinnerungen wach.

Es war im Jahre 1933. Nach Abschluß der Hauptschule stand ich ohne Aussicht auf eine Lehrstelle da. Der Stiefvater war arbeitslos und ausgesteuert, das heißt, er bezog lediglich die sogenannte Notstandshilfe. Damit sollten drei Menschen ernährt und die feuchte Zimmer-Küche-Wohnung bezahlt werden. Dabei ging es uns -ich bin in Schwechat bei Wien aufgewachsen - noch etwas besser als den Arbeitslosen in den Städten. Denn wir konnten in den Auen Holz sammeln und auf den abgeernteten Feldern nach Kartoffeln suchen. Und vor allem gingen wir Ährenklauben. Die Ähren wurden dann zu Hause im Hof gedroschen und säuberlich ausgeblasen. Für ein Kilo saubere Ware bekamen wir von einem Müller ein halbes Kilogramm Mehl, das von der Mutter verkocht wurde.

Einige Jahre später. Es war wieder unmittelbar vor der Ernte. Monate zuvor hatte.Hitler Österreich besetzt. Und ich war mit dem Fahrrad von Schwechat nach Rannersdorf unterwegs. In einem Rucksack hatte ich einen Stoß Flugblätter, die einen Aufruf gegen die braune Unterdrückung enthielten, und die Aufforderung, Widerstand zu leisten. Ich trat fest in die Pedale, um bald zu meinem „Treff" zu kommen, wo ich das Material zu übergeben hatte. Als ich plötzlich auf der Straße Bewegung, eine Stauung bemerkte. SA und NSKK (NS-Kraftfah-rerkorps) hatten eine Sperre errichtet und durchsuchten alle Verkehrsteilnehmer.

Mein erster Gedanke: jetzt haben sie dich. Das weitere war das Werk eines Augenblicks. Ich stoppte mein Rad, wendete es blitzschnell und fuhr zurück, woher ich gekommen war. Doch damit war ich nicht gerettet, sondern erst recht verdächtig. Zwei NSKK-Männer setzten mir auf Motorrädern nach, überholten mich und sperrten auch die Gegenrichtung ab. Aus! Ich saß in der Falle.

Eigentlich völlig sinnlos wendete ich neuerlich mein Rad. Da gewahrte ich, daß direkt von der Straße weg, mitten durch das bereits mannshohe Getreidefeld, ein Weg führte. Ich riß mein Rad herum und raste den Weg hinein, lenkte mein Rad in das Feld, trat und trat in die Pedale, ließ mich schließlich fallen. Und rührte mich nicht. Die Ähren schlugen über mir zusammen. Die schmale Radspur aber war kaum zu sehen. Meine Verfolger fuhren ein paarmal den Weg auf und ab, bis sie schließlich aufgaben, was ich zunächst gar nicht glauben wollte.

Und wieder einige Jahre später. Die braune Diktatur war zusammengebrochen, das neue Österreich gegründet worden. Zum unheilvollen Erbe gehörte auch der Hunger. Als die neue Ernte reifte, fehlte es an Händen, die Ernte einzubringen. Im Rahmen der Aktion „Jugend bringt Brot" gingen wir damals hinaus in die Dörfer. Die erste größere Gruppe wurde gar offiziell von Bürgermeister Körner und Vizebürgermeister Kunschak verabschiedet. Mit unserem Einsatz wurde, so hoffe ich, ein ermutigendes Zeichen gesetzt.

Der Autor ist Volksbildner, freier Publizist und geschäftsführender Vorsitzender der österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz.

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