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Die Krise aller Krisen

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So eine kleine Krise ist doch etwas sehr Handliches, sagte sich Studiosus Winfried Müller, und geriet flugs in eine solche - knapp vor der Abschlußprüfung. Seine Krise hatte freilich gute Gründe und einen schönen Namen: Ruth hieß sie und beschäftigte Winfried genau in der Zeit, die er sich für das Auswendiglernen von mehreren Metern Prüfungsstoff reserviert hatte. So lernte er wesentliche Teile des Lebens, ein wenig auch von Ruth kennen, nur der Prüfungsstoff blieb ungelernt.

Da Winfried allerdings, altmodisch, wie er war, mit seinen^Studienkosten und Lebenshaltungsausgaben den Eltern und nicht etwa dem stipendienfreudigen Staat auf der Geldtasche lag, mußte er nach einer überzeugenden Ausrede suchen.

Vielleicht hätte sein Vater beim Anblick des tatsächlichen Hinderungsgrundes Milde walten lassen-aber dies war Wmfried zu unsicher. Die Suche währte nicht allzu lange. Sie war systematisch angelegt: Winfried folgte einfach seinen zweit- und drittliebsten Beschäftigungen. Er versaß Vormittage im Kaffeehaus und lümmelte Abende lange vor dem Fernseher. Da kam ihm der rettende Einfall. Schließlich war ja alle Welt in der Krise, warum nicht auch er?

Beim nächsten Familientisch verzog er nach dem abschließenden Erdbeereis das Gesicht zur Verzweiflungsmaske und verkündete mit verhauchender Stimme: „Es tut mir wahnsinnig leid, aber ich kann nicht zur Prüfung antreten.“ Und gleichermaßen gedehnt wie akzentuiert: „Ich bin nämlich in einer Krise“.

Die Wirkung seiner Enthüllung war für Winfried überraschend. Auf vieles war er gefaßt gewesen, nicht aber auf dieses: „Du auch, mein Sohn“ nickte verständnisvoll der bislang für unnachsichtig gehaltene Vater. „Es mußte ja so kommen“, schluchzte tränendurch- wirkt die milde Mutter.

„Ich auch“, und „Mußte ja sokom- men“, wunderte sich Winfried. Er hatte durch Ruths intensive Inanspruch nahme völlig übersehen, daß er nicht der einzige war, der sich zur Krise entschlossen hatte. Es kriselte allerorten.

Wo früher Schwierigkeiten bestanden, brach jetzt die Krise aus. Unternehmen hatten nicht länger Zahlungsschwierigkeiten, sie steckten in Liquiditätskrisen. Angejahrte Familienväter schielten nicht länger sehnsüchtig nach den Freundinnen ihrer Töchter, sie lebten eine Mittlebenskrise durch. Schüler und Lehrer ärgerten sich nicht länger über die Schule - die Schüler und die Lehrer, sie fanden sich in einer allgemeinen Krise des Bildungssystems wieder.

Natürlich stolperten auch der Gemeinderat, der Landtag und die Bundesregierung von einer Krise in die andere, und die Massenmedien hätten noch viel länger und viel öfter über die politischen und wirtschaftlichen, die persönlichen und die gesellschaftlichen Krisen berichtet, wenn sie nicht selbst ständig zwischen mehreren Krisen hin- und her gewankt wären.

Schon beschäftigte man sich nicht nur öffentlich, sondern auch in akademischen Zirkeln mit der Krise, dem blanken Phänomen an sich und seinen schillernden Erscheinungsformen. Ein renommierter Verlag kündigte einen als solchen fest programmierten Best- Long-Seller „Du und die Krise: ein Ratgeber für die ersten sechs Krisenjahre“ an. Die Konkurrenz schlief nicht, bereitete ebenfalls einen Massenerfolg vor, geriet aber, noch bevor ein krisenfester Krisen-Titel gefunden worden war, selbst in eine heftige Krise und mußte dem feindlichen Wettbewerber das verlegerische Feld überlassen.

Über Bildschirm und durch populäre Bildzeitungen drang das Krisenbewußtsein in das einfache Volk, wie dich und mich. Schließlich veränderte sich unter dem ständigen Druck allseitiger Krisen auch der Sprachgebrauch. Zur Begrüßung quälte man sich nur noch ein ge preßtes „Kris’ Gott“ ab. Die spätindu- strielle Gesellschaft war knapp davor, eine frühkrisische zu werden.

Doch dann kam es doch ganz anders. Als alles und jeder bereits in der Krise steckte, geriet auch die Krise in die Krise. Eines Tages hatte man nämlich von der Krise genug. Da halfen auch die Medien und die Politiker nichts. Als niemand mehr in einer Krise stecken wollte und auch nichts mehr von Krisen, krisenhaften Entwicklungen, bevorstehenden und andauernden Krisensituationen hören wollte, fanden auch die Journalisten nicht Berichtenswertes mehr an der Krise. Die Krise geriet völlig aus der Mode.

Voller Verzweiflung riefen die plötzlich von Arbeitslosigkeit bedrohten Krisenmanager einen Krisen-Krisen- gipfel ein. Die hitzige Diskussion gipfelte im Vorschlag eines jüngeren Kri- sologen: „Machen wir doch die Krise selbst, um sie dann managen zu können!“ Höhnisches Gelächter der Etablierten: „Was, glauben Sie denn, junger Freund, haben wir denn in der Vergangenheit gemacht?“ Und ein zitronengesichtiger Krisenexperte sprich- wörtelte: „Eine Krise kommt selten von alleine“.

Einigung konnte nicht erzielt werden, Ratlosigkeit verbreitete sich: Ob man wohl auch ohne Krise leben könnte? Die einflußreiche Krisen- Lobby setzte sich schließlich wenigstens international durch. Das folgende Jahr wurde durch die Vereinten Nationen in einer Kampfabstimmung mit hauchdünner Mehrheit zum internationalen „Jahr der Krise“ erklärt.

Seit damals ist - wie jedermann vorhersehen konnte - die Krise wiederum aus der Welt verschwunden.

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