6892866-1979_51_19.jpg
Digital In Arbeit

Die Riesenvögel

Werbung
Werbung
Werbung

Eine abscheuliche Woche war das gewesen, grau und traurig. Der Himmel hing voll Schnee, aber es war zu kalt, der Schnee kam nicht herunter. Ein Himmel aus Eisen, und die Erde war wie verschimmelt, ein anderer Reif als sonst, nicht der glitzernde Kristallflaum, nirgends die leuchtenden Eiszapfen, nur diese widerliche Kälte, dieser spröde Aussatz, der das sterbende Jahr fraß. Die Leute sahen aus, als eilten sie zum Begräbnis eines ungeliebten Verwandten, der noch dazu Schulden bei ihnen gehabt hatte, lauter verdrossene Trauergäste, Fellmützen bis auf die Nasenwurzel gedrückt, kurz angebunden und überhaupt dagegen. Im Wetterbericht hieß es, daß es in Höhenlagen sonnig und mild sei. Das war der Gipfel der Gemeinheit.

Endlich am Samstagabend stieg das Thermometer um zwei Grad. „Aha“, sagte der Vater, aber Poldi wußte nichts davon, denn er lag schon im Bett und schlief. Vielleicht träumte er, daß es draußen schneite. Einmal mußte es ja schneien. Für diesen Fall hatte Poldi seine Vorbereitungen getroffen.

Die Stille war es, die ihn am Sonntagmorgen noch früher weckte, als es die Woche über der Wecker getan hatte. Natürlich ist es an allen Sonntagmorgen verhältnismäßig still, im Haus rührt sich noch lange nichts, und drüben auf der Straße fahren weniger Autos als an den anderen Morgen, aber diesmal war es nicht die gewöhnliche Sonntagmorgenstille, sondern etwas Weiches, Nahes und Lebendiges. Das Auto, das nun vorüberfuhr, blubberte gemütlich, nur der Motor schnurrte, das böse Schniefen der Reifen war nicht zu hören. Poldi blinzelte hinauf über die Tuchent, die sich wie eine Wachte über ihm türmte. Das Zimmer war erfüllt von einem sanften, unverbindlichen Licht. Poldi drehte sich auf den Bauch und blinzelte zum Fenster. Die Scheiben hatten unten einen weißen Saum, in den Ecken rundgezogen.

Der Schnee! Viel war es nicht, nur eben knöcheltief, aber doch alles weiß, schneeweiß und jetzt donnerte und klirrte auch schon drüben auf der Straße der erste Schneepflug heran und vorbei. Poldi haßte die Schneepflüge, diese lärmenden Ungetüme, die jedesmal den schönen Schnee zerstören und die Straße bis auf den schwarzen Grund aufkratzen. Hintoben stand ein Kerl in Blau, der mit einer Schaufel Sand oder Salz in die Wunden streute. Immerhin blieb die Verwüstung auf die Straße beschränkt, und zwischen dem Haus, in dem Poldi wohnte, und der Straße drüben gab es die Wiese, in der ein Schneepflug nichts zu suchen hatte, weil es sich um eine städtische Grünanlage handelte, die sogar für Menschen verboten war. Nur die Hunde taten auf der Wiese, was Hunde so tun, und die Polizisten schauten nicht einmal hin, was den Großvater immer sehr ärgerte, weil er sich noch an die Zeit erinnern konnte, als die Wiese zum Haus gehört hatte und mit einem Zaun gegen Hunde abgesichert gewesen war. Jetzt war die Wiese ein Teil der städtischen Grünanlage, nur ein schmales, stillgelegtes Hintertürchen bezeugte noch jene Vergangenheit. Der einzige Schlüssel zu dem Türchen war angeblich verlorengegangen, man brauchte ihn ja auch nicht. In Wahrheit lag der Schlüssel in der Geheimlade von Poldis Schreibtisch, neben kostbaren Muscheln, der besten aller Gabelschleudern und anderen Schätzen. Poldis Vater ahnte etwas von dem Schlüssel, aber er wußte auch, wie wichtig die Geheimnisse eines Zwölfjährigen sind.

Zunächst jedoch zog sich Poldi winterfest an, umsichtig und behend wie nur selten, von den Moonboots an den Füßen bis zur Wollhaube über die Ohren, mit gelegentlichen Seitenblicken aus dem Fenster. Wenn es ging, wollte er noch vor dem ersten Hund auf der Wiese sein. Dann zog er die Fäustlinge wieder aus, steckte sie in die Taschen seines Anoraks, holte den Schlüssel aus der Geheimlade und steckte ihn zu dem rechten Fäustling, öffnete vorsichtig die Zimmertür, horchte hinaus, kehrte zurück zum Bett und holte darunter die Erfindung hervor. Es war die jüngste von vielen Erfindungen, die Poldi gemacht hatte, und aus den Resten von einigen vorangegangenen Erfindungen angefertigt: Zwei ziemlich große, flache Dinge aus Holzleisten, Butterbrotpapier und Schnüren, die ein Uneingeweihter wahrscheinlich für eine Art Drachen gehalten hätte. Poldi klemmte sie unter den Arm, schlich auf den Gang hinaus, die Stiege hinunter und bei der Vordertür aus dem Haus. Nein, auch den anderen Schlüssel für das Patentschloß der Vordertür vergaß er nicht, mit zwölf Jahren ist man schließlich kein kleines Kind mehr.

Alle Häuser rund um den Platz hatten vom kleine Vorgärten mit allerhand Gesträuch, bei den Poldis beispielsweise zwei Buchsbaumkugeln, die jede ein lustiges Barett aus Schnee trugen. Poldi trat behutsam die weißen Stufen hinab, blickte von der Gartentür aus zurück und bedachte, daß er diese Spuren nur verwischen konnte, wenn er die Stufen und den Weg freischaufelte, bevor die Eltern oder die Geschwister herauskämen. Das war aber das Letzte, was zu tun war.

Poldi ließ die Gartentür angelehnt, weil sie leicht quietschte, und eilte, seine Erfindung unter dem Arm, die Häuserreihe entlang bis zu der Gasse, die vom Platz zur Straße führt. Kein Mensch war zu sehen, alle schliefen sie in den Sonntag hinein. Auch Poldis Nachbarfreunde. Das wär's, dachte er, als er um die Ecke zur Straße hin bog.

Die paar frühen Kirchengänger auf der anderen Seite kannte Poldi nicht, um die paar Autos scherte er sich noch weniger. Als er auf die Höhe seines Hauses gekommen war, legte er die Erfindung auf den Gehsteig, nebeneinander die zwei drachenartigen Dinge. Dann säuberte er die Sohlen seiner Moonboots vom Schnee, trat behutsam - erst der linke Stiefel, dann der rechte Stiefel - auf die beiden Hälften der Erfindung, blies sich die klammen Finger warm und verschnürte die Erfindung an seinen Füßen.

Noch immer war niemand Störender zu sehen. Langsam, mit ausschwingenden, großen Schritten bewegte sich Poldi über die Wiese zu dem Hintertürchen, sperrte es lautlos auf und verschwand darin.

Als er das Türchen hinter sich schloß, fiel ihm ein, daß es ganz überflüssig gewesen war, den Schlüssel zur Vordertür einzustecken. Er lachte über sich, weil er noch nicht vergessen hatte, daß Erwachsene viel Überflüssiges tun und sich dabei auf diese Umsicht etwas zugut halten. Darauf schnallte er die Erfindung ab, versteckte sie in der Abstellkammer, die hinter dem Hintertürchen lag, und schlich durch das noch immer schweigende Haus hinauf in sein Zimmer.

Vor allem weiteren lief er zum Fenster hin, um sein Werk zu bewundern. Es war großartig! Von der Straße zum Haus her zog sich unmißverständlich die Fährte eines Riesenvogels. Poldi öffnete das Fenster und beugte sich über den schneeigen Sims, um zu se-

hen, wie die Spur unten bei dem Türchen abbrach. Dort war der Riesenvogel ins Haus hereingekommen. Wo sonst wäre er hingeraten? Die Spur führte nicht zurück. Der Vogel mußte im Haus sein. Huhu! Poldi selbst fühlte sich ein wenig mulmig, wenn er sich den Vogel vorstellte.

Während Poldi wieder in den Pyjama und ins Bett schlüpfte, standen ihm plötzlich die Fußstapfen durch den Vorgarten vor Augen. Das war die Schwachstelle. Im Augenblick ließ sich daran nichts ändern, er durfte nur nicht versäumen, sie beiseite zu räumen, bevor die anderen nach dem Frühstück aus dem Haus gingen.

Das Bett war noch köstlich warm, Poldi rollte sich zusammen wie ein Igel. Er war sehr aufgeregt, aber auch sehr befriedigt, und da beides müde macht, schlief er tatsächlich ein.

Poldis Vater war es, der ihn an diesem Morgen zum zweiten Mal weckte. „Poldisohn, es schneit!“, rief er und brachte eine Wolke Kaffee- und Speckduft mit „Der erste Schnee ist da!“

„Es schneit? !“ rief Poldi, schoß aus dem Bett und zum Fenster. „Oh

„Was denn? Bist du vielleicht dagegen?“

Poldi schüttelte den Kopf. Gut kniehoch lag draußen der Schnee, dicht wirbelten die Flocken. Drüben auf der Straße donnerte ein Schneepflug heran und vorbei. Von der Vogelspur war nichts zu sehen.

„Und morgen ist der achte Dezember und schulfrei: Hast du etwas Schlimmes geträumt?“

„N-nein.“

In der Sonntagnacht schien der Mond Poldi ins Gesicht. Er stieg aus dem Bett und tappte zum Fenster. Der dumme Schnee lag noch immer kniehoch und glänzte wie Silber. Ein später Schneepflug brauste vorbei, die Pflugschar angehoben.

Und da kam ein Mann mit Fellmütze und Mantel, hochgestelltem Kragen. Er trug etwas unter dem Arm. Jetzt blieb er stehen, gerade gegenüber von Poldis Fenster, ließ auf den Gehsteig fallen, was er unter dem Arm getragen hatte, und bückte sich.

Eine Gänsehaut überlief Poldi, und das war nicht nur die Kälte: Denn jetzt bewegte sich der Mann sehr langsam, mit ausschwingenden, großen Schritten über die silbrige Wiese auf das Haus zu - er hatte merkwürdige Dinge an den Füßen, und hinter ihm zeichneten sich Spuren ab, die nichts Menschliches hatten. Die Fährte eines Riesenvogels.

Auf halbem Weg hielt der Mann an und blickte zu Poldis Fenster auf, und Poldi, der seinen Vater trotz des Mondschattens, der sein Gesicht verbarg, erkannt hatte, zog sich in die Fensternische zurück. Er hörte eine Tür knarren.

Also hat er einen zweiten Schlüssel, dachte Poldi. Dann kroch er ins Bett zurück und fühlte sich glücklich und erwachsen wie nie zuvor.

Am Montagmorgen weckte ihn der Wind, der am Fenster rüttelte.

„Wind?“ brummte Poldis Vater und rieb sich die Nase. „Das ist ein richtiger Sturm, wenn ich bitten darf!“

Sie standen nebeneinander und schauten hinaus auf die glattgefegte Wiese. Von der Vogelspur war nichts zu sehen.

Poldi sah zu seinem Vater, der Vater sah zu Poldi. Beide fingen an zu lachen.

„Du hast mir gestern so leid getan, Poldisohn“, sagte Poldis Vater.

„Macht nichts“, tröstete Poldi ihn. „Auch Nachtvögel haben manchmal Künstlerpech.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung