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Drei Augenblicke

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1 • Nahekommen

Zuerst ist es nur der Dunststreif am Horizont, dann nimmt dieser Streif die warme Erdfarbe an, dann löst sich die Farbe in viele Schattierungen auf, unterdessen sind wir herangekommen.

Der Weg lauft eben auf eine Holzhütte zu.

Das Holz leuchtet rot, das Dach ist durch Stürme verbogen, ein Tamariskenstrauch begrenzt den Weg, sein Duft entfesselt unser Daseinsgefühl.

Wir sehen alles auf so direkte Art, daß das bisher Betrachtete untergeht.

Untergehn lassen wir den Schmalfilm von Städten, von technischen Wunderwerken und Lebensgeschichten.

Wir merken wie wenig zum Schauen notwendig ist, daß Schauen sich aus Atmen und Hören ergibt, aus Wünschen und Fühlen, Wahrnehmen und Ver-stehn.

Das Komplizierte geht im Einfachen auf. Mit kleinem Rest.

Der Rest enthält die Frage: Erträgt es der Mensch, den Dingen so nahe zu sein? Ist seine Haut widerstandsfähig genug für die ständige Berührung mit einer Hütte in Kopfhöhe, mit Bank, Bett und Lampe, mit dem Du? Mit einer Wolldecke unter dem windigen Himmel?

2 • Anwesenheit

Es ist damit nicht die Person gemeint, sondern das Wesen der gemeinten Person: sie ist an-we-send.

Daraus folgt, daß die Person, die an-wesend ist, sich nicht am Ort ihrer Anwesenheit aufhalten muß.

Manchmal stehe ich jemandem gegenüber, der mir mit seinem Umriß den Raum beengt, aber kein Zollbreit des Raumes betreten hat.

Anwesenheit verlangt nicht Vorhandensein.

Anwesenheit erlaubt es, allein zu spazieren und mit vier Augen zu schauen anstatt mit zwein, zu reden mit zwei Zungen, die Nachrichten durch vier Ohren zu ver-stehn — sie erlaubt es, ganze Städte zu mieten, zu denen die Menge keinen Zutritt hat.

Das zärtliche Paar, das Arm in Arm dahinschreitet, fürchtet ein Auftreten Dritter: sie kommen dazwischen.

Den einzelnen schreckt kein Gestörtwerden, er kann Wellen empfangen, die außerhalb seines Gerätes nicht wahrnehmbar sind. Das Gerät ist sein Kopf. Dort gewahrt er Körper und Klang, dort befindet sich die Maschinerie, die das Bild in Bewegung setzt.

3 • Brillenbruch

Der Wind, der mir die Schutzbrille vom Gesicht reißt, macht, daß ich meine Augen nicht aufschlagen kann.

Was früher schmeichlerisch in die Pupillen floß, sticht wie mit Nadeln und verbreitet Schrecken. Ohne die nötige Vorbereitung komme ich in eine gänzlich andere Situation.

Im Licht, das mir - wie das Licht Hunderter Lampen - entgegenspringt, sind die Objekte meine Feinde geworden. Sie verlieren ihre Brüderlichkeit.

Umgekehrt wäre der Wechsel erträglicher gewesen, nach der harten hätte die weiche Kontur den Schock gemildert, wenn nicht gar gelöscht.

Was ich mit meinen ungeschützten Augen sehe, ist, daß die Sonne Keile in Fugen treibt. Sie zwängt, was zusammenhalten sollte, auseinander. Mit meinen ungeschützten Augen sehe ich klar, so klar, daß ich auch das, was ich nicht sehe, sehe.

Der Brillenbruch hat mir das Brüchige freigesetzt.

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