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Eine Begegnung in der Nacht
Als ich aufstehe, um mir ein Buch zu holen, weil ich nicht schlafen kann, als ich die Tür aufmache, steht er vor mir, hell schimmernd. Ein Skelett..
Ich bin nicht erschrocken. Eher verärgert. Es ist drei Uhr morgens, die Geisterstunde lang vorbei. Was soll das?
Außerdem, ich lebe seit fast drei Jahrzehnten in diesem Haus. Nie ist mir ähnliches begegnet. Die Siebenschläfer, die auf dem Dachboden oder Balkon mitunter die Nacht zum Tag machen, ja. Aber das ist etwas anderes.
Das Skelett hält mir die Hand hin und macht einen Schritt auf mich zu. Mich packt die kalte Wut. Komtur-Beminiszenzen. Don Giovanni ist dieser Händedruck schlecht bekommen. Aber ich bin nicht Don Giovanni, und der da ist kein Komtur.
„Raus!” schreie ich. Er geht drei Schritte rückwärts - lautlos — und setzt sich auf die Couch.
Wieso sage ich er? Doch, doch, es ist ein Mann. Ich sehe es an der Art wie er sitzt. Wohltuend unprätentiös. Er läßt den Kopf hängen. Fast tut er mir leid. Aber wo kämen wir hin? Ich fingere nach der Pistole, die ich nachts immer griffbereit habe. Man weiß nie. Da hebt er den Kopf und sieht mich an.
Ein Skelett erschiessen?
Ich schieße. Es ist völlig unsinnig. Die Kugel fährt durch seine Rippen hindurch und schlägt in die Wand. Man kann den Einschlag heute noch sehen. Er steht langsam auf, geht mit kleinen, trippelnden Marionettenschritten zur Tür, alles lautlos. Plötzlich ist er verschwunden. Ich habe viel zu lange gewartet. Ich hätte ihm nachlaufen sollen.
Ich lege die Pistole weg. Ich und schießen. Es ist ein schlechter Witz. Ich bin Pazifist bis in die Knochen. Habe in meinem Leben nur auf ein Wildkaninchen geschossen. Das war im Krieg, als wir Hunger hatten.
Ich hole das Buch, ohne hinzuschauen, greife blindlings hinein, dort wo Griechen und Römer stumm nebeneinanderstehen. Auf der Treppe drehe ich mich ein paarmal um. Und was habe ich mir geholt? Sene-ca. Heraklit wäre mir lieber gewesen, aber vor Seneca ziehe ich auch den Hut. Seneca also: „Vom glückseligen Leben”. Er muß gewußt haben, wovon er schrieb. Ich blättere. Das Buch fällt herunter, bleibt aufgeschlagen liegen. Ich hebe es auf und lese:
„Die Kunst zu leben muß man das ganze Leben hindurch lernen, und was dich vielleicht noch wunderbarer dünkt: sein Leben lang muß man sterben lernen.”
Es wurde nichts mit dem Lesen. Ich hatte das deutliche Gefühl, etwas versäumt zu haben. Schließlich muß der Besuch einen Grund gehabt haben. Es tut mir leid, daß ich nicht freundlicher gewesen bin.
Überhaupt: wo ist die Pistole geblieben? Ich fange an zu suchen, treppauf, treppab, bis der Morgen dämmert. Sie muß im Haus sein. Ist aber nicht.
Der Kerl hat sie mitgenommen. Das geschieht mir recht.
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