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Erlebte Wahrheiten

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Ein merkwürdiges Buch fürwahr: Einschlafgeschichten für Mütter. Merkwürdig — aber welcher Lektor, welcher Verleger hat es in langen Jahren nicht mindestens einmal erlebt, daß er ein Manuskript in die Hände bekommt, scheinbar ganz kunstlos, „nur“ aus echtem Gefühl erwachsen und doch ein Kunstwerk, vielleicht erklärbar daraus, daß solches Gefühl sicher vom Verstand gesteuert wird, der dafür sorgt, daß das Geschriebene nicht in Trivialität und Sentimentalität abgleitet. Wenn man selbst als Verleger oder Lektor einmal ein derartiges Erlebnis gehabt hat, weiß man um die Wahrheit der vom Verlag aus dem Lektoratsgutachten zitierten Sätze: „Manchmal, in Sternstunden, kommt ein Manuskript, das überraschend neu ist in Inhalt, Form und Klangfarbe, anders als alles, was man bisher gelesen hat. Dieses ist so ein Manuskript.“

Wer ist die Verfasserin Hilde Ehrenberger, die bisher literarisch unbekannt war? In ihren Einschlafgeschichten stellt sie sich als eine Frau reiferen Alters vor, die schon graue Haare und erwachsene Kinder besitzt. Sie hat in den letzten zehn Jahren neun Kinder- und Jugendbücher geschrieben und auch Gedichte, in denen Natur- und Lebensgefühl sich einen Ausdruck sucht. Nun plötzlich mag sie keine Kindergeschichten mehr schreiben — „die Geschichten sind mir abhanden gekommen wie die Kinder“ —; denn vor allem sieht sie sich als eine normale durchschnittliche Frau, die Kinder aufgezogen hat und als Hausfrau in der Alltagsarbeit nufgeht, die sich dabei verbraucht und sich dieser Gefahr bewußt wird, die sich darüber Gedanken macht und die Gedanken zu Papier bringt — eben diese Einschlafgeschichten —, Gedanken und Empfindungen, wie sie auch aus den Gedichten sprechen; fast jeder Einschlafgeschichte ist ein in der Klangfarbe dazu passendes Gedicht vorangestellt, zum Beispiel die folgende Stimmungsülustration für den immer gleichen Hausfrauen-Alltag: „Der Morgen tritt an mein Bett — Tau an den Füßen — Sonne im Gesicht — reißt meine alte Seele aus ihrer Versunkenheit — schickt mich aus der Freiheit des Traums — in das Gefängnis des:' Tages — Bis zum Abend wird es dauern — bis ich mich gewöhnt habe — an die Fessel von Arbeit und Pflicht“.

„Meine Tagesspule wickelt sich unaufhaltsam ab. Sie läßt mir keine Zeit für meine Angst“, schreibt sie einmal in einer Einschlafgeschichte. Stets versteht sie es, in so einer kleinen Geschichte Lebenssituationen einzufangen, Lebenssituationen, wie sie jede Frau erlebt, die Mann und Kinder hat — die Entfremdung zu den Kindern beispielsweise, der Abgrund, der sich zwischen den Generationen auftut, Sie ist noch „vom Schlage jener, deren Jugend aus Trümmern bestand“ und nicht aus Träumen, wie sie die heranwachsenden Kinder lieben — eine Polarität, die sie auch an den Begriffen von Sehnsucht und Bedürfnissen verdeutlicht: „Wenn ich heute nach meiner Sehnsucht suche unter all den notwendigen und nützlichen Dingen, merke ich mit Entsetzen, daß ich keine Sehnsucht mehr kenne, sondern höchstens Bedürfnisse. Vielleicht sucht sie auch mein Sohn, aber ich biete ihm nur Nahrung und Kleidung und ein Dach . über dem Kopf, ich stille seine Bedürfnisse, er aber sucht mehr.“

Es sind erlebte Wahrheiten, die aus jedem Satz sprechen und den Inhalt des Buches ausmachen, sie rufen die Erinnerung wach an den Lebensführer von Anne Morrow Lind-bergh, „Muscheln aus meiner Hand“. Auf der gleichen Ebene liegt dieses Buch einer Wienerin, dem ein ähnlicher Erfolg beschieden sein könnte, vielleicht nicht nur bei Müttern, sondern auch bei jungen Menschen.

EINSCHLAFGESCHICHTEN FÜR MÜTTER. Von Hilde Ehrenberger. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien. 180 Seiten, Leinen. 180 Schilling.

HEINRICH DRIMMEL

Der konservative Mensch und die Revolution

112 Seiten / Pappband mit Glanzfolie S 75.—

Verlag Herold Wien • München

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