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Fernsehen - portugiesisch

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Vor Jahren haben böse Zungen in den vornehmen Klubs von Lissabon die Behauptung aufgestellt, dem verblichenen Salazar sei es mit Hilfe dreier großer „F“ erstmals gelungen, die Protugiesen von der Wiege bis zur Bahre zu beschäftigen: bis zum 25. Lebensjahr mit Fußball, vom 25. bis zum 50. Lebensjahr mit Fado-Gesän-gen, nach dem 50. Lebensjahr mit Fatima.

Caetano scheint ein viertes großes „F“ dazuerfunden zu haben, das Fernsehen. Ein dichter Wald von Antennen bedeckt die Dächer sowohl der steilen, verwinkelten „Alfama“, der Altstadt Lissabons, als auch der gigantischen Wohnblocks (freundliche Riesen, aber nicht so ansprechend und blumengeschmückt wie der soziale Wohnbau Madrids), in welche das Regime die Bewohner der Elendsviertel zwangsübersiedelt, jener Favelas, deren letzte Reste die Bulldozer nunmehr einebnen. (Niemand wird später heimlich in die alten Höhlen, in die Hütten aus Blech und Kistenholz zurückkehren können.)

Dennoch — das vierte „F“, das Fernsehen, spielt, allem Anschein zum Trotz, im Leben der Portugiesen keine erste Rolle, es bleibt Randerscheinung. Zwar flimmern, mit gedrosseltem Ton, die Bildschirme ohne Unterlaß in den Privatwohnungen, Geschäftslokalen, Bars, Portierlogen und Warteräumen, aber sie erfüllen in diesem Land, das allen harten Geräuschen abhold ist, die Aufgabe einer sanften Berieselung, unendlich diskreter allerdings als die ö-3-Welle hierzulande. Das Regime wußte sich auch diesen Umstand zunutze zu machen: täglich läuft, von 14 bis 19 Uhr, ein pausenloses Volksbildungsprogramm in der Televisäo Portuguesa, und zweifellos bleibt davon hier und dort dies und jenes hängen, in den weißgestrichenen, blaugerahmten Gehöften der einsamen Bauern hoch droben auf den Grenzbergen, die meilenweit vom nächsten Ort und der nächsten Schule entfernt leben; vielleicht auch in den Fischerkneipen unten, entlang der endlosen Küste des Ozeans. Bei solchem Aufwand für Wissen und Bildung auf einfachstem und höchstem Niveau bleiben allerdings nur wenig Mittel für die Abendprogramme übrig, die dann im wesentlichen aus Shows und aus alten amerikanischen Filmen bestehen, wie sie anderswo gai nicht mehr verleihbar sind.

Wie dem auch sei — das vierte große „F“ mit seinen hell- und dunkelgrauen, immer ein wenig unwirklichen Schattenspielen vermag nicht aufzukommen gegen die Bildkraft einer hellen, steilen, winddurchwehten Stadt, deren Straßenverkehr alle Überraschungen einer Hochschaubahn anbietet und deren telephonische Verbindungen einem Lotteriespiel gleichkommen, an deren Hauswänden die Azulejos, die blauweißen Kacheln, südlich grelles Licht verstärkt widerspiegeln, dieser Stadt Lissabon, die sich selber immer neue Schauspiele bietet, etwa die Zeremonie der Wachablöse königlicher Garden vor dem Palais des Präsidenten, eine barocke, herrlich sinnlose Quadrille, anmutig und total unmilitärisch (denn kein Volk mit kurzen Beinen und einiger Neigung zur Korpulenz besitzt irgendwelche Eignung zum Militarismus).

Portugals Fernsicht kommt nicht von den Bildschirmen. Man beginnt sie langsam zu begreifen, hört man den Volkssängern zu, wenn sie spät nachts geschlossenen Auges, gehobenen Kopfes, aus rauher, schmelzender Kehle die Fados singen, diese Mischung aus Zärtlichkeit, unbefangener Erotik, Patriotismus und Fernweh. Man versteht Portugals Fernsicht schließlich ganz, steht man am westlichsten Punkt des Kontinents, dem Kap Säo Vicente, im Rücken die Last des enormen Spanien, im Angesicht nur noch die brausende blaugrüne Weite des Atlantik. Denn Portugals Herz schlägt nicht hier, sondern draußen, jenseits der Meere. Ohne seine überseeischen Provinzen und deren rassenintegrierende Aufgabe ist dieses Land ein Torso; es müßte seelisch erstik-ken. Dieses Land, dessen Aufbruch ins Grenzenlose einst ein Luis de Camöes in einem der machtvollsten Epen der Weltliteratur, den Lusiaden, besang und das heute ein Peter Weiss unter dem Beifall naiver Nordeuropäer als „Lusitanischen Popanz“ beschimpft. (Der Popanz ist inzwischen der fremden Eindringlinge, die von den Presseagenturen den edlen Namen von „Aufständischen“ erhalten hatten, Herr geworden. Die überseeischen Provinzen finanzierten deren Vertreibung übrigens aus eigenen Mitteln, nicht das Mutterland.)

Portugals flimmernde Bildschirme schenken nicht Fern-, sondern Nahsicht. Weil Portugal jenes europäische Land ist, das in ständiger Fernsicht lebt, das sich mit Völkern aller Erdteile gemischt hat, das keinen Hochmut kennt, Fremdartiges liebt und nur ein wenig über die „Gringos“, die Amerikaner, und über all jene lächelt, die es ebendiesen Gringos an Geschäftigkeit und Leichtgläubigkeit gleichtun möchten.

Europas Brücke ins Unendliche beginnt hier.

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