Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Fest der Liebe
Schnell ist der Herbst ins Land gekommen, rotes Weinlaub, Kastanien, die wie braune Billardkugeln über den Asphalt rollen, Morgennebel und später Altweibersommer. Die Seele macht's dem Körper nach, sie wird träge, rückwärts gewandt. Erfahrungen, Erkenntnisse, Erinnerungen, Einstimmungen. Um diese Zeit gehe ich gerne zu den Gräbern der Menschen, die mir lieb waren, die vorausgegangen sind. Großeltern, Mutter, Vater - groß ist der Kreis der Verwandten nicht -der Halbbruder im Ausland begraben - in irgendeinem Grab in der Fuggerstadt Augsburg. Die Freunde? Verstreut, so wie im Leben. Walter in Israel, Mischa in New York, Poldi irgendwo in Rußland -der Krieg, der Genozid, was weiß ich. Die Menschen hier - so viele waren es in einem Jahr: György Sebestyen, Gretl Strasser, Norbert Pa wlitzky, Kurt Werner, mein Franz Tassie in Wien, der liebe Kohlruß in Salzburg. Wozu aufzählen, rechnen
- ihrer wurde und wird gedacht, so wie es sich gehört; der Schar, die angeführt ist von Bruno Kreisky, den ich vierzehn Tage vor seinem Hingang noch besuchen konnte.
Aber - fällt Ihnen auf, wie schnell auch die sogenannten Prominenten vergessen werden? Ja, richtig vergessen. Ein Lehrstuhl, ein Platz im Orchester, in der Künstlergarderobe, am Operationstisch ist verwaist
- 24 Stunden, nicht Tage, nein, 24 Stunden später sitzt ein Ersatzmann drauf und das Leben geht weiter. Gott sei Dank - aber eigentlich ist es traurig, daß auch hier die Dampfwalze des Konsums drüberfährt.
Unseres Freundes Heinz Conrads wurde gedacht, ein Park nach ihm benannt, aber - wer redet heute noch von Karl Hruschka, Fritz Heller, Emst Waldbrunn, Leopold Rudolf -ja, wer außer einigen Theatermenschen von Leopold Lindtberg. Wer erinnert sich noch an Max Lustig, Wondra und Zwickl, ohne die es in Wien keinen „bunten" Abend gab. Der große Chirurg Georg Gasser ist heimgegangen - nicht einmal alle seine Patienten erinnern sich an ihn. Karajan, ja - Torberg - da sorgen Gesellschaften und Reklamefirmen dafür, daß ihr Name noch ein wenig leuchtet, aber die, die da um uns herum waren? Vergessen! Der Vater stirbt - Schock, Erschrek-ken, Trauer - nach 14 Tagen geht Mami auf eine Asienreise. Ist die Welt brutal geworden, noch brutaler als sie war? Nein - die Zeit ist hart, härter als es notwendig wäre. Uns geht es so gut wie nie zuvor, vielleicht sind dadurch die Gedanken der Menschen nur mehr in Richtung Auto, Eigenheim und Lottoschein gerichtet. Ich weiß es nicht, ich sehe es nur und bin traurig.
Zu wichtig ist die Erinnerung an die, die unser Leben mitgeformt haben, zu wichtig das Erinnern an Zeiten, da nichts selbstverständlich war. Wer seine Toten vergißt, vergißt sich selber. Deshalb gehe ich gerne zu den Gräbern. Ich gestehe, es ist ein wenig Aberglaube und Furcht da bei, aber der Hauptgrund ist doch das Erinnern, das Bedenken und Bedanken. Und das Wissen, daß einer nur dann tot ist, wenn keiner mehr an ihn denkt.
Allerseelen ist ein freudiger Tag, denn das Wiederfinden der Abgeschiedenen ist ein Fest der Liebe.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!