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Frech ist zuwenig

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Das Kindertheater, noch bis vor wenigen Jahren als unwichtiges Beiwerk des Erwachsenentheaters betrachtet, wurde in der Bundesrepublik plötzlich zum umstrittenen Diskussionsgegenstand. Progressive Theaterleute und Autoren begannen dem guten alten, seit mehr als 100 Jahren mit großer Ausdauer über die Bühne geschleusten Märchen den Kampf anzusagen. Die Zwerglein mit den Wattebärten, Feen, Zauberer, Hexen und was sich sonst noch alles so in Omas Märchengarten tummelt, soll reali-tätsbezogenen, gegenwartsnahen, Kritik und soziales Verhalten fördernden Darstellungen weichen. Denn das Märchen, so wird festgestellt, führt in eine Scheinwelt, in der Konflikte nicht durch eigene Initiative, sondern durch das Eingreifen meist überirdischer Kräfte gelöst werden.

Das Märchen ist also veraltet. Natürlich ist es nicht tot. Aber seit ein gewisser Carl August Görner (1806 bis 1884) auf die Idee kam, Märchen als Vorlagen für Kinderdramatik zu gebrauchen, hat sich das gesellschaftliche Bewußtsein doch weitgehend geändert. Das Märchen kann die Probleme einer hochindustriali-

sierten Gesellschaft, wie sie sich Erwachsenen und Kindern gleichzeitig stellt, weder erklären noch lösen helfen. Es ist also kein entsprechendes pädagogisches Mittel mehr. Außerdem sind die alten Märchen, auf der Bühne dargestellt, schon immer fragwürdig gewesen: der Symbolgehalt, das, was zwischen den Zeilen liegt, geht im dramatischen Geschehen verloren Um so dringender stellt sich die Forderung nach neuen, kindgerechten Stücken, die durchaus märchenhaften Charakter haben können, darüber hinaus aber das Kind mit der Welt konfrontieren in der es lebt, ihm

Identiflkationsmöglichkeiten und Verhaltensmuster liefern. In denen das Kind erfährt, daß Leben Konflikt ist, aber auch, daß und wie sich dieser Konflikt lösen läßt.

Der Versuch wurde gewagt. Die Ergebnisse sind unterschiedlich. Sie werden bestimmt von einem großen Thema. Es heißt: Emanzipation; der Kinder von den Erwachsenen (Eltern, Lehrer), der Frau vom Mann, des Untergebenen vom Vorgesetzten. Nicht mehr brav, ruhig und fleißig sein heißen jetzt die Kardinaltugenden, sondern frech, aufgeweckt und kritisch. Die Gefahr eines neuen Klischees liegt auf der Hand. Weshalb auch die Anfangs-Euphorie einer antiautoritären Linken bald einem etwas besonnenerem Einlenken wich. Handelten die ersten revolutionären Kinderstücke fast durchwegs von frechen, in ihrer Naivität hinreißenden Kindern, die dümmlichen, in veralteten Vorstellungen und Klischees befangenen Eltern ein Schnippchen schlagen, so bemüht man sich neuerdings zunehmend um ein „gegenseitiges Verständnis zwischen den Generationen“, so Dr. Norbert Mayer, künstlerischer Leiter des Münchner „Theaters der Jugend“.

Und das hat sich das moderne Kinder- und Jugendtheater zum Ziel gesetzt:

• Stärkung der Wahrnehmungsund Kritikfähigkeit;

• Entwicklung eines Problembewußtseins;

• kritisches Aufzeigen sozialer Verhaltensmuster;

• Artregung zu schöpferischer Aktivität;

• Förderung der Selbst- und Um-weltkenntnis.

Vor allem soll das Theater vom Kind ausgehen, das Kind soll Anregungen, Stoffe und Themen liefern, die dann vom Erwachsenen drama-

tisch verarbeitet werden. So hat das Dortmunder Kindertheater regelmäßige „Arbeitsnachmittage“ mit Kindern eingerichtet, und in München möchte Maddalena Kerrh, die Frau des Schauspielers und „Off-Off-Theater“-Leiters Kelle Riedl, mit „Spielgruppen“ arbeiten und Kinderstücke schreiben, bei denen die Kinder aus dem Publikum mitspielen können. Weiters werden die drei Tabus Familie, Schule und Berufsausbildung einer kritischen Betrachtung unterzogen.

Spätestens damit jedoch wurde das Kindertheater zum Politikum. In Nürnberg mußte das Stück „Coca Cola und die Tullamarios“ nach handfesten Protesten abgesetzt werden, in München wurde das Lehrlingsstück „Stifte mit Köpfen“ vom bayrischen Kultusministerium verboten, und in Würzburg führte das Jugendtheater zum Krach zwischen CSU und ihrer Nachwuchsorganisation der Jungen Union. Stücke, wie „Tut, was ihr wollt...“, „Lieber keine Schule als ...“ und „Auf etwas schießen, bis es kaputt ist“, waren schon allein durch ihre Titel geeignet, im konservativen Lager Ablehnung und Entrüstung hervorzurufen.

Und worum geht es in diesen Stücken?

In „Stifte mit Köpfen“ von Werner Geifig, das unter Mitarbeit von Lehrlingen entstand, lehnen sich zehn männliche und weibliche Lehrlinge gegen ihre Vorgesetzten auf und versuchen, ihre Rechte durchzusetzen. In „Mannoman“, einem Stück des „Grips“-Theaters in Berlin, werden Unterdrückungsmechanismen aufgezeigt unter dem Motto: „Der Chef, der brüllt den Krause an, Der Krause brüllt den Vati an, Der Vati brüllt die Mutti an, Die Mutti brüllt mit uns. Wir hauen ab von Mutti,

Denn Mutti kuscht vor Vati, Denn Vati kuscht vor Krause, Denn Krause kuscht vorm Chef.“

Und in „Coca Cola und die Tullamarios“ von Rainer Hachfeld und Elek Baur wird Konsum und Fernsehhörigkeit aufs Korn genommen: die Familie des Anton Drink wird vom Fernsehapparat beherrscht — was er befiehlt, wird gekauft, und was die Kinder (bezeichnenderweise Coca und Cola genannt) verlangen, das bekommen sie auch. Natürlich

langweilen sie sich schrecklich, bis Tulla und Mario, die schlagfertigen und teilweise recht witzigen Kinder von nebenan eine trotzdem nicht sehr überzeugende Alternative bieten, nämlich Autospielen und Frechsein.

Hier wird deutlich, worunter die meisten dieser Kinderstücke leiden: am Fehlen eines positiven Leitbildes nämlich, das die emanzipatorischen Vorschläge in einem neuen Weltbild zusammenfaßt. Aber auch hier gibt es neue Ansätze: Anette Spola, die in München das „Tams“-Theater leitet, hat wohl etwas von den Schwierigkeiten gespürt, Erziehungswerte

ohne Erzieher zu vermitteln, und in ihrem Kinderstück „Eine Mutter wird gekauft“ sogar eine „Idealmutter“ vorgestellt. Auch im neuen „Grips“-Stück „Doof bleibt doof“ sind die Erwachsenen bereits wesentlich sympathischer, Aggression — bislang als notwendiger revolutionärer Impuls durchaus positiv verstanden, wird hier zum gefährlichen Moment. Und in „Trummi kaputt“ gelangen die Kinder zur

Einsicht, daß mit Gewalt (sie werfen Fenster ein, beschmieren Türen, zertrampeln ein Blumenbeet) keine Lösung gelingt, sondern nur durch logische Argumente.

Vorläufiges Fazit der Betrachtungen: das moderne Kinder- und Jugendtheater ist etwa vier bis fünf Jahre alt, das heißt, es befindet sich noch im Experimentierstadium. Vieles, was geboten wird, ist köstlich erfrischend, witzig und vor allem gegenwartsbezogen. Vieles ist nur ideologiebeflissen, zu lehrhaft und zu eindimensional. Das wirklich gute Kindertheater muß erst erfunden werden.

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