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Gespräch und Geschwätz

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Diskussionen stehen im Kalender der Veranstalter gleich den Patronen in dem des Kirchenjahres, zeremo-niös nehmen die Diskutanten nik-kend und sich neigend ihre Plätze ein, eine schaugestellte Oligarchie über Stoff und Thema auf Brettern, welche die intellektuelle Halbwelt bedeuten, und dann meint und glaubt es links und rechts des Pater conventus in höflichstem Konjunktiv. Bisweilen ist Mitgerede des Publikums zugelassen, das sich ebenso, nur meistens etwas leidenschaftlicher und jargonärmer, bemüht, an Thema und Mitrednern vorbeizureden.

In den deutschen Nachtstudios macht der Feingehalt an Ideologie den Sicherheitswert des Plauderpostens.

Ich möchte mit dem Nachbarn, der mich aufsucht, weil er meint, ich wüßte in dem Bescheid, was ihn kummervoll und schlaflos macht, seine Sache nicht diskutieren, mir genügte es, hätte er eine Ansprache bei mir, von mir einen Zuspruch (günstigsten Falles), und auch das andere wäre ja nur, weil wir gerade davon redeten, gute Nacht denn, und schönen Dank, nix zu danken Sepp, es ist eben so wie es ist, und das ist, daß man eigentlich gar nicht daran denken darf... ja, und darüber kann man auch nicht diskutieren, weil das keine Thesen sind, sondern Erfahrungen, bei denen der Tod seine Finger unter der Decke hat... Mir scheint, das Wort Diskussion hat seine Karriere im neueren Sprachgebrauch einem Schwund an Urbanität im gesellschaftlichen Verhalten zu danken.

Was zur Diskussion gestellt wird, erspart einem die Blamage, die ein erklärtes Ja oder Nein nach sich ziehen könnte. Der Schwarze Peter wandert ins Publikum, der Veranstalter zuckt mit den Achseln, er hat es ohnedies kommen sehen, ist seine Meinung, die ohne Meinung ist. Erfahrungen gemacht haben und Erfahrungen beschrieben erhalten haben: der Unterschied zählt so lange zu den beschriebenen Erfahrungen bis er selbst Erfahrung wird, die man macht; daß der Mensch altert, ist in Beispielen beschriebene Erfahrung, und eines Tages wird die eine Erfahrung, die man macht, es ist nur unsicher, wann die Reflexion einschnappt, ohne die eine Wahrnehmung nicht Erfahrung werden kann. Ich weiß, der Fünfzigjährige sieht anders aus als der Dreißigjährige. Ich sehe es an dem und dem; und also weiß ich es; mein Wissen ist ungefähr gleich der Wahrnehmung. Und eines Tages — die Familie legt Photos auf — sehe ich den Fünfzigjährigen, der ich selbst bin, anders aussehen als den Dreißigjährigen, der ich selbst war. Da es sich nicht um den oder den, sondern um mich selbst handelt, zündet die Eigenbeteiligung schneller die Reflexion, die Wahrnehmung kippt augenblicks in Erfahrung um. Da ich es bin, der sich gealtert wahrnimmt, mache ich mit der Wahrnehmung die Erfahrung, indes ich von dem und dem nur die Mitteilung in der Wahrnehmung erhalte, daß er gealtert ist. Einzig was den Tod betrifft, sind der und der und ich erfahrungsgleich: von dessen und dessen Tod habe ich ebenso wenig eine Erfahrung wie von meinem.

Es sei und man habe keine Zeit, Briefe zu schreiben, das Telephon sei da nicht nur das sparsame Verständigungsmittel, sondern auch das dem Verständnis dienlichere, da das fernmündliche Gespräch Mißverständnisse in nuce sogleich aufzuklären erlaube, die Intonation der Sätze zudem eine gewisse Geschmeidigkeit des Ausdrucks wie der bestätigenden Rezeption ermögliche, welche oft erst im Enderfolg eines längeren Briefwechsels zu erreichen sei — günstigen Falles. Gut, ja, auch das. Allein der Vorliebe für das Telephon korrespondiert auch eine Neigung zu Un-verbindlichkeit, eine Scheu, etwas zu sagen, das feststehen soll und das zu verantworten man bereit und fähig Ist. Die Juristen haben das zuerst gesehen: ... mündliche Vereinbarungen bedürfen der Niederschrift, um rechtsgültig zu sein ... Das Schwarzauf-Weiß, der Buchstab', einzig sie sind dokumentarisch, das Telephongespräch gilt nicht mehr als der flatus vocis, der Hauch an der Membrane, etwas, das verweht, etwas ein wenig Windiges, eben gleich dem, der den Buchstaben zu meiden Grund, ihn aufs Papier zu setzen nicht die Zeit, weil insgesamt nicht den Charakter hat.

Da jede Menschensache nur eine des Menschenlebens, Teil also eines Ganzen ist, kann keine Menschensache ein ganzes Menschenleben wert sein.

*

Man kann heute denen nicht rechtgeben, die rechthaben.

Aus ,,Momente und Reflexe“ von Rudolf , Bayr, Residenz-Verlag, Salzburg

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