6949575-1984_06_13.jpg
Digital In Arbeit

Gott zu loben ohne Choräle

19451960198020002020

Der Autor, Germanist in München und Jury-Mitglied beim Wettbewerb, sieht nach dem Ausrollen der Aufklärungswelle neue Hoffnung für die christliche Literatur.

19451960198020002020

Der Autor, Germanist in München und Jury-Mitglied beim Wettbewerb, sieht nach dem Ausrollen der Aufklärungswelle neue Hoffnung für die christliche Literatur.

Werbung
Werbung
Werbung

Ist es für Christen wieder erlaubt, nach Möglichkeiten einer christlichen Literatur auszuschauen? Sozusagen eine Taube auszuschicken, um nachzuschauen, ob in der Sündflut irgendwo trockenes Land in Sicht sei? Ich will mit aller gebotenen Vorsicht eine Antwort darauf versuchen.

Zunächst und lapidar: Das Himmelreich auf Erden ist Marcuse zum Trotz nicht gekommen. Der Osten ist gründlich und greulich desavouiert, aber auch der aufgeklärte Westen kann keine Paradiese mehr verkaufen. Jene Kritik an der Aufklärung, die im Jahr 1947 von den prominentesten Neuaufklärern, von den beiden Großen der Frankfurter Schule, Adorno und Horkheimer, geleistet wurde, gewinnt von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr Wahrheitsgehalt.

Ja, wahrhaftig, „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils", und -so Horkheimer in „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft": „Wenn wir unter Aufklärung und geistigem Fortschritt die Befreiung des Menschen vom Aberglauben an böse Kräfte ..., kurz die Emanzipation von Angst verstehen, dann ist die Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunft heißt, der größte Dienst, den die Vernunft leisten kann."

Nach der Überschwemmung richtet sich das eine oder andere Gräslein wieder auf. In dieser Situation sind wir heute. Es richtet sich die eine oder andere Hoffnung wieder auf. Weit und breit keine Bernanos und Bloys in Sicht, es wird noch abgeräumt. Die Fragezeichen werden vorsichtig hinter die Größen von gestern abend gesetzt, Grass, Boll, Walser, Peter Weiß, Thomas Bernhard. Eingeschworene linke Kulturkritiker überschütten den vorsichtig auf das Mysterium zu sich vortastenden Handke nicht mehr mit Ironie, sondern hören da, in der Salzburger Landschaft, neues Gras wachsen.

In diese Dämmerungsstunde mit der Hoffnung auf Morgenrot möchte ich das Unternehmen des Verlages Styria gemeinsam mit der Wochenzeitung DIE FURCHE stellen, ein Preisausschreiben für christliche Literatur zu wagen. Man unternimmt ein Experiment, aber man unternimmt es in einem Augenblick, wo gewisse Indizien darauf hinweisen, daß es damit gutgehen könnte. Gräslein, Pflänzlein, Bäumchen, wir brauchen bescheidene Metaphern. „Ernte" wäre schon ein bißchen großspurig. Genies werden nicht durch Preisausschreiben entdeckt (oder doch, es gibt den eklatanten Fall Rousseau), Talente kommen in einer dürftigen Zeit auch so zu ihrem Recht. Oder doch nicht: wenn die Verlage schon beim Anblick von Kreuz und Rosenkranz die Nase rümpfen?

Eine Jury wählte im vorvorigen Jahr Erzählungen, im vorigen Jahr Gedichte aus, und die prämiierten Autoren sind nun mitten unter uns. Ich sehe keinen Nutzen darin, viel über Literatur zu reden. Sie ist ja selber Rede, die sich auf ihre Weise — unnachahmlich und unübersetzbar — expliziert. Ich gebe nur ein paar Charakteristika an, um das Heute (und das Morgen) vom Gestern abzusetzen.

Zunächst also: Nichts Triumphales, keine glaubensgeschwellte Brust, keine Apologetik, keine Claudel-Symphonie. Mit den Worten „Gott zu loben ohne Choräle", die aus einem der eingesandten Gedichte stammen, habe ich diesen Vortrag überschrieben. Das Kreuz neben der Autobahn ist quantite negligeable:

Ein Kreuz in Beton gegossen auf ungemähtem Rasen. Die

benachbarten Straßenschilder können nur lachen über die Konkurrenz Sie hat nicht viel Publikum Wer kann schon bei Tempo 80

Dinge beachten wie zum Beispiel

ein Kreuz in Beton gegossen auf ungemähtem Rasen.

Zum zweiten: Einfachheit, Reduktion auf jene Einfachheit, die die Evangelienberichte auszeichnet, zur Not noch karger, wie in dieser Ballade, die das Abendmahl und Jesus und Judas betrifft:

Zwei stehen vom Tisch auf und gehn auseinander Nicht zornig Bestimmt geht der seinen Weg

und geht ihn der andre Der eine beginnt wo der andere endet Zurück bleibt ein Tisch aus drei reifen Jahren Es bleiben zurück die Reste des Opfers Sie bleiben zurück für die Dauer der Zeit

Wenn irgend etwas unsere eher miese Epoche auszeichnet, dann ist es die Möglichkeit, beim Entlarven, beim Hautabziehen, beim Skelettieren plötzlich auf das Wesentliche, auf das Letzte zu stoßen: die Reste des Opfers, das, was eigentlich als Abfall wegzuräumen wäre — „sie bleiben zurück für die Dauer der Zeit".

Das Modewort dafür heißt Betroffenheit. Damit ist gemeint, was im Motto von Hemingways Roman „Wem die Stunde schlägt" steht: Kein Mensch ist ein Eiland für sich selbst. Alle geht alles an. Das ist ein drittes Kennzeichen dieser neuen Literatur, auch in der Satire, als Bloßstellung des Nicht-Betroffenseins, der bundespräsident bittet

unbewegten gesichts im fernsehen um spenden für die

welthungerhilfe

ich

esse

unbewegten gesichts weiter

und schneide mir noch eine dicke scheibe schwarzwälder schinken ab.

Ich glaube, daß in dem Prozeß einer ersten neuen schüchternen Verchristlichung, den ich so kühn bin hier zu prophezeien, dieses Gefühl der Solidarität, der Allverbundenheit und Allbetroffenheit, die entscheidende Rolle spielen wird. Zugleich wird immer deutlicher werden, daß die Menschen nur Brüder sein können, wenn es einen Vater gibt. Ich habe dafür in einem Gedicht, in seinen letzten drei Versen, die fast vollkommene Formel gefunden: Du bist ein Geschöpf. Eine schönere Liebeserklärung fällt mir nicht ein.

Und noch ein letzter Punkt. Es meldet sich eine wachsende Bereitschaft, wieder die Sprache der Symbole zu verstehen, also anzunehmen, einzusehen, daß Zeichen Bedeutungen haben, daß die Fügungen unserer Welt sich nicht in Zufälle auflösen lassen, sondern höher und tiefer weisen. Zum Schluß ein Gedicht, das zwar in mancher Einzelheit hart sein mag, anstößig auch in dem sehr unlyrischen, brutal profanen Schluß,das ich aber großartig finde in dem neuen Blick, im Aufgetan-Sein des Auges für die Meta-Anatomie des Menschenleibes, wenn mir dieses Wort erlaubt ist. Vielleicht hast du ihn noch

niemals gesehen, diesen Fingerzeig deines

Fingers, jeder dreigliedrig, dreieinig, um Dreiklänge zu fassen,

um dreidimensional zu

umgreifen. Vielleicht bist du noch

niemals dieser Spur nachgegangen, der Spur aus fünf Zehen, vergleichende Anatomie

aller Wege, vom Sumpf des Lurchs bis auf den Felsen von Sinai mit seinen fünf Gottesgeboten, mit den fünf Tugenden im Umgang zwischen Männern

und Frauen. Vielleicht hast du ihn

noch niemals gefühlt, den goldenen Schnitt in dir, die Richtgröße des

aufrechten Baums, deines Ich-Stamms, durchkreuzt von der Spannkraft der

ausgebreiteten Arme. All das kannst du an dir

ignorieren wie einen Blinddarm, aber

nur solang er nicht entzündet ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung