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Griechische Sehnsucht

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Jeder von uns kennt die Träume, deren Stimmung uns beim Aufwachen völlig ausfüllt: nie sind Todesangst und Glück stärker und reiner als in diesen Minuten des Erwachens, vor allem aber ist es das Gefühl der Sehnsucht, das uns nach solchen Träumen wie ein süßer Geigenton durchfluten kann.

Vorwiegend sind es natürlich Frauen, von denen wir so traumen. Frauen, die wir nie zu lieben wagten oder — anscheinend — gar nie geliebt haben, Frauen auch, die wir längst vergessen haben: im Traume sehen wir sie leibhaftig vor uns, bei einem Gartenfest etwa, wir wollen sie ansprechen, aber es gelingt uns nicht, andere Gruppen drängen sich dazwischen, nicht einmal eines kurzen Blicks können wir teilhaftig werden, sie schauen an uns vorbei, über uns hinweg.

Doch nicht nur Frauen entdek-ken wir auf diese Weise wieder.

Heute hat mir von meinem Griechischprofessor am Gymnasium in Klosterneuburg geträumt. Er hieß - damals, in Wirklichkeit - Doktor Franz Schwarz, hatte brünettes, gewelltes Haar, Augengläser, Sommersprossen, war weder Pedant noch Enthusiast, weder zerstückelte er die Sprache in winzige Partikelchen ohne Bedeutung, noch brach er alle paar Minuten in hellenophile Ekstase aus oder ertränkte uns gar in einem Meer von „Wiege des Abendlandes”-Phrasen. Er war sachlich, manchmal etwas „zwider” (von der unterschwelligen Art, die — viele Jahre später — Bruno Kreiskys Popularität zu festigen half); er liebte uns vielleicht nicht, hatte aber anderseits auch nichts dagegen, uns das Griechische beizubringen.

Ich habe ihn in den siebenundzwanzig Jahren seit meiner Matura nie mehr gesehen, ich habe ihn also mehr als sechsmal so lange nicht gesehen, als wir bei ihm — von 1953 bis 1957 - Griechisch hatten, wir: die sechs Burschen und die drei Mädchen, unsere drei Grazien.

Ich habe mich nach der Matura, beruflich und aus Liebhaberei, viel mit Sprachen beschäftigt, aber eigentlich wenig mit dem Griechischen. Manchmal glaube ich, daß das alles ein sinnloser Umweg war: ich hätte Griechisch, mehr Griechisch, immer nur Griechisch lernen sollen.

Denn Griechisch hat alles, was die anderen haben, bloß reicher, üppiger, überquellender: die Logik des Lateinischen ohne dessen Reißbrett-Rigidität, dazu die Klangfülle orientalischer Idiome; es ist flexibel und wuchtig, modern und vorweltlich, westlich und exotisch zugleich. „Para thi-na polyphloisböio thalässes” heißt „an den Strand des wogenden Meeres” und über die Jahrzehnte hinweg sind mir die letzten beiden Worte meiner Maturaarbeit: „kekosmemenen basilikos”, also „königlich geschmückt”, von einem Weibe gesagt, in Erinnerung.

Oft wird meine Sehnsucht nach den Griechischlektionen im alten Gymnasium geradezu übermächtig. Als einzige Tätigkeit, die auszuüben wert gewesen wäre, schwebt mir die des Griechischlehrers vor Augen, Griechischlehrers in Klosterneuburg oder meinetwegen in Horn oder in Laa an der Thaya ... im Sommer, wenn die Kastanien vor der Schule blühen und die Aufmerksamkeit der hübschen, langbeinigen Griechischschülerinnen nur mühsam beim Text zu halten ist, und im Winter, wenn der Schnee auf den Fenstersimsen liegt, und, wenn man die Fenster aufmacht, die kalte Winterluft hereinweht und die Erinnerung an die Schikurse zurückbringt - vor dreißig Jahren, als Schifahren und Griechisch in gleicher Weise etwas

Neues waren und ich beim Elend des Stemmbogens voll der Sehnsucht an den Kalinka-Kunst, das zerfledderte Lehrbuch, und dann an den kleinen, schwarzen Familien-Homer dachte.

Manchmal geht die Sehnsucht so weit, daß ich die wahnwitzige Idee fasse, im studentischen Greisenalter auf eine Lehramtsprüfung im Griechischen hinarbeiten, mich den Schulbehörden als skurrilen Anfänger, als Junglehrer mit grauen Schläfen andienen zu sollen.

A propos, graue Schläfen: in dem Traum, den ich heute gehabt habe, habe ich Franz Schwarz mit ganz weißen Haaren gesehen, nachdem ich eine Traumepisode zuvor seine Tochter, von der ich noch aus Schulzeiten wußte, daß sie ihm ähnlich sähe, die aber im Traum ein riesiges Mädchen war, angesprochen, zitternden Herzens angesprochen und gebeten hatte, mich zu ihrem Vater zu führen. Franz Schwarz empfing mich sehr freundlich, wir plauderten und im Laufe des Gesprächs meinte er, er wolle noch einmal eine Diplomarbeit aus Griechisch verfassen. Komisch, dachte ich, er ist doch schon Gräzist und Doktor, aber vielleicht hat er in Latein promoviert...

Wahrscheinlich war dieser Wunsch aber mein eigener, ich selber wollte diese Arbeit verfassen. Auf jeden Fall habe ich gleich am Vormittag die Kosequenzen gezogen und mir ein Vokabelheft gekauft, in das ich ab jetzt — und sei's nur eins pro Woche—homerische Vokabeln eintragen will.

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