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In einer Raudikuchl…

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Schon 1908 kaufte die Gemeinde Wien das kleine Haus in der Nuß- dorferstraße (Nr. 35) in Wien, in dem einst Franz Schubert geboren wurde. Von dem ursprünglichen Zustand, in dem es zur Zeit von Schuberts Geburt gewesen war, war nicht mehr viel vorhanden. Nicht einmal die genaue Wohnung der Eltern Schuberts wußte man mehr. 1912 wurde in einer freiwerdenden Wohnung ein kleines Schubert-Museum errichtet. Und dann vergingen viele, viele Jahrzehnte bis nach dem Freiwerden aller Wohnungen das Haus wieder in den Zustand zurückversetzt wurde, in dem es sich um 1800 befunden hatte. Auch die Wohnung der Eltern Schuberts konnte ausfindig gemacht werden. Nicht nur die Freunde der Wiener Musik sollten dieses Haus besuchen, sondern auch so mancher andere, der im Luxus der heutigen Zeit vergißt, wie Menschen einst gelebt haben und leben mußten.

Die Wohnung der Eltern Schuberts bestand nur aus einer Küche und einem kleinen Zimmer. Nicht einmal ein Kabinett war dabei, geschweige denn ein Vorzimmer. Als solches mußte die kleine Küche dienen, die einen offenen Herd hatte. Es war, wie man in Wien zu sagen pflegt, eine sogenannte „Rauchkuchl“. In dieser Rauchkuchl kam Franz Schubert zur Welt und nach ihm noch ein Dutzend Geschwister. Von Hygiene muß nicht vied zu spüren gewesen sein. Auch viel Raum hatte diese riesige Familie kaum in dieser Miniaturwohnung. Gewiß, zur damaligen Zeit lebten die Kinder, wenn sie nicht gerade in der Schule sich befanden oder den Eltern bei der Arbeit helfen mußten, im Freien, entweder im Hof oder auf der Gasse, auf der noch kein großer Verkehr war. Die mangelnde Hygiene einerseits, die überfüllte Wohnung anderseits, die geringen Errungenschaften der damaligen Medizin brachten es mit sich, daß die Kindersterblichkeit enorm war. Von den zwölf Geschwistern Schuberts blieben nur fünf am Leben.

Eine kleine Rauchkuchl und ein kleines Zimmer, das war die Schu- bertsche Wohnung. Im gleichen Haus wohnten noch 15 weitere Parteien, und alle hatten nur solche Wohnungen. Sogar der Hausherr hatte keine größere. Eine Küche und ein Zimmer — das ist ungefähr die Wohnung, in denen 70 Prozent der Wiener bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wohnten. Gewiß, für viele Menschen war eine solche Wohnung oft bereits ein Fortschritt gewesen. Die Menschen, die aus den Ebenen Ungarns kamen, aus den Karpatenwäldem, aus dem mährischen Tiefland, aus den kroatischen Ländern oder aus Österreich, um in Wien Arbeit und Fortkommen zu finden, hatten vielfach nicht einmal eine solche Wohnung besessen. Sie hatten im Stall geschlafen und sich im Winter und Sommer am Brunnen im Freien gewaschen. Für alle diese Menschen war eine solche kleine Wohnung mit einer Wasserleitung am Gang und einem WC bereits ein großer Fortschritt. Viele konnten sich zumindest am Beginn ihrer Arbeit in Wien nicht einmal eine solche Wohnung leisten. Dr. Funder schreibt in seinem großen Erinnerungsbuch „Vom Gestern ins Heute“, daß zu Ende des 19. Jahrhunderts in Wien noch rund 100.000 Menschen als sogenannte „Bettgeher“ lebten, das heißt, daß sie nicht einmal einen Mindestraum gemietet hatten, sondern nur ein Bett in einer bewohnten Wohnung, das sie während einiger Stunden in der Nacht benützen durften. Erst bei Betrachtung solcher Momente sieht man, welche sozialen Fortschritte unsere Zeit gemacht hat.

In dem kleinen Haus in der Nuß- dorferstraße befand sich auch in zwei Zimmern die Trivialschule, an der der Vater Schuberts als Lehrer unterrichtete. Aus den Schulgeldern, die der Vater Schuberts bezog, mußte er auch noch den Zins für die Schulräume bestreiten und mußte auch die Möbel für die Schule beschaffen. Alles Dinge, die heute unvorstellbar sind. Die Schule ging ursprünglich sehr schlecht, der Vater Schuberts hatte nur wenige Kinder zu unterrichten und mußte sich durch Stundengeben einen kümmerlichen Nebenverdienst verschaffen. Aber er muß ein tüchtiger Lehrer gewesen sein, denn 1796 hatte er schon in seiner Schule, die aus drei Klassen bestand, 174 Schüler, denen er zweimal täglich Unterricht gab. Denn diese vielen Schüler hätten in den zwei kleinen Zimmern gleichzeitig keinen Platz gehabt. Die vielen Schüler und wahrscheinlich auch die Privatstunden des Vaters versetzten ihn in die Lage, sich einen Gehilfen für die Schule halten zu können und auch seinen Sohn Franz, den er selbst als Lehrer unterrichtete, in das Stadtkonvikt gehen zu lassen. Nach Absolvierung dieses Konviktes ergriff Franz Schubert den gleichen Beruf, den sein Vaiter ausübte: er wurde Lehrer. Und’ erst langsam begann sein Aufstieg zu einem der größten Musiker Wiens, welche Karriere nur zu bald durch seinen Tod ein Ende fand.

Es war wirklich eine große Tat der Gemeinde Wien, daß sie dieses Schubertsche Geburtshaus in seinen ursprünglichen Zustand versetzt hat. Und wer dieses Haus betritt, sieht deutlich, wie Menschen noch vor 150 Jahren gelebt haben und leben mußten. Obwohl dieses Haus nicht einer herben Schönheit entbehrt, während die häßlichen Zinskasernen des späten 19. Jahrhunderts frei auch nur von dem leisesten Anflug von Schönheit waren. Das Haus ist sehr still, und kaum dringt der Lärm von der Nußdorferstraße herein. Es ist still, weil es — leider — auch nicht viele Besucher aufzuweisen hat. Obwohl viele Menschen es aufsuchen sollten, nicht nur um an Franz Schubert zu denken, sondern auch um einige besinnliche Minuten in ihr Leben einzuschalten und sich zu erinnern, wie gut es ihnen und den meisten Menschen heute geht Denn in der sogenannten guten alten Zeit war nicht immer alles gut.

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