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Lauter falsche Leichen

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„Verwandlungskünste“ hat Mario Szenessy einen frühen Roman genannt, „Lauter falsche Pässe“ einen anderen, und' auch „Otto der Akrobat“ als Titel eines Erzählun'gsban-des weist in die Richtung, wo keineswegs alles mit rechten Dingen zugeht. Dagegen nimmt ein „Hut im Gras“ sich geradezu harmlos aus. Doch ist er, dieser Hut, gerade dies nicht, sondern ist ein kriminalistisches Indiz, und obendrein ein — wie bei Szenessy nicht anders zu erwarten — täuschendes. Der russische Geheimdienstagent Beck hat diesen Hut nämlich — nein, dieser Hut gehört seinem Vorgesetzten Ragin, der eben nach London abgereist ist, während seine Leiche — das heißt, diese Leiche ist ja verschwunden, und Rogin wird erst in Paris — doch das müßte man anders erzählen, daß nämlich der Vater von Beck in Wor-kuta — zum Teufel, nein! Am besten erzählt man das haargenau so, wie Mario Sznenessy es erzählt hat, und deshalb braucht man es gar nicht mehr nachzuerzählen; wer will, kann's ja lesen. Und wer nicht will — nun, der bringt sich um einen Genuß.

Um einen Genuß, den die deutsche Gegenwartsliteratur eher selten offeriert, da sie sich, von dem Kitschfabrikanten Heinrich Boll bis zu dem Pseudo-Blödler Ernst Jandl, nicht nur bitter, sondern geradezu verbittert ernst nimmt: Druck-und-Papier-Gewerkschafter eben. Szenessy, als Ungar mit deutscher Tiefe nicht vorbelastet, mit deutscher Gründlichkeit nicht vorbestraft, kann sich den Luxus leisten, an der Oberfläche zu bleiben. Er zeigt sie, diese Oberfläche, er dreht und wendet sie, er stülpt sie um, er stellt sie auf den Kopf, und siehe da: sie ist immer noch Oberfläche! Denn „die Tiefe ist außen“, wie A. P. Gütersloh sagt.

Daß die Medaille immer nur zwei Kehrseiten hat, macht Szenessy diesmal in einer Geheimdienst-Story anschaulich; in einer Story noch dazu', die das Klischee nicht scheut, wenn es gilt, das Parodistische hervorzukehren; das Parodistische nicht in diesem Roman oder im Agenten-Roman schlechthin, sondern eigentlich im menschlichen Leben selbst. Seine Souveränität — oder wenn man das lieber hört: seine Ungeniertheit — dabei geht so weit, das Moskau in den Monaten zwischen Stalins Tod und Berijas Verhaftung zum zentralen Schauplatz der Handlung zu machen; aber ungeniert war ja auch — sofern es erlaubt ist, Kleines mit Großem zu vergleichen —, ungeniert war auch Shakespeare, als er seinen „Julius Cäsar“ schrieb, oder Schiller mit „Teil“ und mit „Wallenstein“.

Szenessy will denn auch nicht, wie so viele seiner deutschblütigen Kollegen, literarisch etwas Politisches bewirken oder auch nur beweisen. Er will viel mehr etwas erzählen, das auf ganz anderer Ebene wahr ist: daß in der Absicht der Täuschung bereits der Keim der Selbsttäuschung liegt. Der sprichwörtlichen Weisheit, daß die Menschen betrogen sein wollen, fügt Szenessy seine persönliche Marginalie hinzu: daß sie betrogen sein wollen am liebsten von sich selbst.

DER HUT IM GRAS. Roman. Von Mario Szenessy. 291 Seiten, DM 24,—. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg.

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