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Leben ohne Lüge
Michail Gorbatschow will Alexandr Sol- schenizyn und 174 anderen russischen Dissidenten die sowjetische Staatsbür- gerschaft zurückgeben. Doch für sie und den Autor des „Archipel Gulag" kommt eine Rückkehr nicht so einfach in Frage.
Michail Gorbatschow will Alexandr Sol- schenizyn und 174 anderen russischen Dissidenten die sowjetische Staatsbür- gerschaft zurückgeben. Doch für sie und den Autor des „Archipel Gulag" kommt eine Rückkehr nicht so einfach in Frage.
Alexandr Silajew, Erster Mini- ster der Russischen Sowjetrepublik, lud kürzlich Alexander Solscheni- zyn als seinen persönlichen Gast in sein Heimatland ein. In dem Brief, der auch in der Tageszeitung „So- wjetskaja Rossija" veröffentlicht wurde, heißt es an den Nobelpreis- träger im amerikanischen Exil: „Nun ist die Zeit gekommen, in der
sich Ihr Werk einen Weg zu dem Publikum verschafft hat, für das es ursprünglich bestimmt war...die Widersprüche im russischen Leben haben einen Punkt der Zerstörung erreicht, wo Ihre Rückkehr...ein notwendiger Schritt sein wird."
Schon einen Tag danach gab die Frau des Schriftstellers, Natalia Solschenizyn, bekannt, daß die „Verordnung" Gorbatschows zur Wiedererlangung der Staatsbürger- schaft nicht ausreichen werde. Denn Solschenizyn begnügt sich nicht
einfach damit, daß Gorbatschow ihm und 174 anderen russischen Dissidenten die sowjetische Staats- bürgerschaft wieder zurückgeben will. Der Autor des „Archipel Gu- lag" war aus seiner Heimat nicht nur ausgebürgert, sondern auch des Vaterlandsverrats angeklagt wor- den. Eine Rückkehr in die Sowjet- union ohne vollständige Rehabili- tierung kommt für ihn daher nicht in Frage.
Wie dazu die italienische „La Stampa" schrieb, äußerte sich auch der sowjetische Bürgerrechtskämp- fer Wladimir Bukowski keineswegs enthusiastisch über die Nachricht aus Moskau: „Ich habe noch sieben Jahre Haft mit der UdSSR abzu- rechnen; die Entscheidung Gorbat- schows bedeutet für mich nur eine Formalität." Skeptisch bleibt auch Alexandr Ginzburg: „Was zerstört ist, bleibt zerstört" lautet sein knap- per Kommentar.
Im September 1973 richtete Sol- schenizyn seinen berühmt gewor- denen „Offenen Brief an die sowje- tische Führung", in dem er eine
grundlegende Erneuerung der vor- handenen Strukturen forderte. „Jetzt haben Sie die Möglichkeit, diese Wende in den nächsten drei bis fünf Jahren durchzuführen, in etwa zehn Jahren könnte der inter- ne Prozeß der Umgestaltung abge- schlossen sein. Je eher Sie ihn be- ginnen, desto eher wird er abge- schlosssen sein. Es wird keine an- dere Wahl bleiben, die Umstände zwingen Sie, das zu tun."
„Früher oder später wird das Ende unserer Vorherrschaft in Osteuropa kommen", heißt es wei- ter in dem Brief, „...auch mit Ge- walt können wir benachbarte Na- tionalitäten ... nicht beherrschen". Da die Adressaten des Briefes nicht antworteten, veröffentlichte Sol- schenizyn sechs Monate später sei- nen Brief zusammen mit einer Bot- schaft an das russische Volk: „Leben ohne Lüge". Überzeugt, daß es „unmöglich sei, die Regierenden von unten her zu einer Änderung zu bewegen", wandte er sich an seine Landsleute „ auf keinem Fall mit- schuldig an der Lüge zu werden", die seiner Über- ^^^^^^^^ zeugung nach die Macht vollstän- dig korrumpier- te.
Am selben Tag noch, dem 12. Fe- bruar 1974, wurde Solscheni- zyn inhaftiert und in der Folge aus der UdSSR ausgebürgert.
„Ich schlage Euch nicht ein- mal vor, den Mar- xismus abzu- schaffen oder ihm zu wider- sprechen, ich rate Euch nur, Euch selbst zu retten, Euren Staatsap- parat und Euer Volk."Dieser Brief, den Bre- schnew ignorier- te, aber Gorbat- schow angeblich studierte und - ihn sichtlich in- spirierte, scheint aus heutiger Sicht wie eine Einführung in Glasnost zu sein.
Was Solsche- nizyn am Ende des Briefes für sich sagte, scheint auch für Gorbatschow zu gelten: „Mit die- sem Brief nehme ich eine schwere Verpflichtung für die künftige rus- sische Geschich- te auf mich. Aber ich suche keinen Ausweg, ich er- greife vielmehr dadurch eine noch größere Verantwortung".
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