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Neandertaler unterwegs

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Die Verkehrsregeln sind - sieht man einmal von den Zehn Geboten ab -die leichtest verständlichen Verhaltensvorschriften für einigermaßen zivilisierte Gesellschaften.

Um ein Beispiel zu nennen: die Regel „Rechts vor Links" hat doch selbst der Unbedarfteste nach zwei bis drei Wochen begriffen, sofern er überhaupt rechts von links zu unterscheiden vermag. Der Führerschein ist noch nicht ganz trocken, da kann und wird so ein Neuling, dem einer die Vorfahrt nimmt, sein „Sich-Im-Recht-Wissen" schon massiv dem andern kundtun.

Greift der Anfänger noch zu vergleichsweise bescheidenen Zeichen, etwa Finger dezent an die Schläfe, erkennt man den Routinier an einer ausgefeilten Gestensprache.

Provokant emporgereckter Mittelfinger oder - etwas weniger aggressiv, aber ebenso eindeutig - neckisch aus Daumen und Zeigefinger geformter Kreis oder gar die obszöne Kombination beider Gesten, das sind die Grundvokabeln auf dieser Kommunikationsebene. Je nach Temperament finden die „Gesprächs"-Teilnehmer zu phantasievollen Varianten, Erweiterungen und erfrischenden Eigenschöpfungen.

Haben Sie eben den BMW-Fahrer gesehen, den ich etwas knapp überholt und geringfügig behindert habe? Das Gesicht zu bitterböser Grimasse verzerrt, die Zähne gefletscht, das

Nackenhaar gesträubt, - ich habe mich mit Verhaltensforschung befaßt und kenne die Drohgebärden der Primaten gut - das klassische Gehabe eines gereizten Pavians!

Und der dort drüben im GTI, dem der Radfahrer in die Quere gekommen ist, beobachten Sie einmal den Ablauf seines Gebärdenspiels: unverändert aus dem Paläolithikum das Gestenrepertoire des Neandertalers, nur geringfügig verfeinert durch die Rolex am Handgelenk!

Wir alle, die wir uns in Autos durch den Dschungel, der sich heute Innenstadtverkehr nennt, bewegen, wir sind letztlich nichts anderes als trieb- und iristinktgesteuerte Altsteinzeitler, die wir in mittlerweile fahrbaren und wohltemperierten Höhlen hocken und eifersüchtig darauf achten, daß uns die Untiere aus den Nachbarhöhlen nicht zu. nahe kommen, nichts wegnehmen und vor allem nicht schneller an die Beute - oder ans Ziel - gelangen als wir.

Und dazwischen die Nachkommen der Saurier, heute als LKWs oder

Reisebusse getarnt, die unter uns Neandertalern wie eh und je Angst und Schrecken verbreiten...

Da wird mit lächerlichem Imponiergehabe gegenseitig erzogen und geschurigelt, gedemütigt und gemaßregelt, daß sich die Balken... nein: daß sich die Pneus von den Felgen bieten. Keiner will auch nur ein Haar breit nachgeben, jeder verteidigt schließlich das, was er für sein gutes Recht hält.

Wer sich nicht erziehen läßt, wird bedroht; wen Drohungen nicht schrek-ken, der wird zumindest beleidigt. Handgreiflichkeiten bleiben nur deshalb die freilich gar nichtjrnehr so seltene Ausnahme, weil dazu das Auto gestoppt und verlassen werden müßte; etwas, das dem Neuzeit-Neandertaler zutiefst zuwider und wesensfremd ist. Aus seiner fahrbaren Rüstung (Eine feste Burg ist unser Auto...) kriecht so schnell keiner ohne zwingenden Grund. Beleidigen durch ein rasches Wort oder mittels eindeutiger Gestik ist da schneller und viel bequemer.

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