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Oh, unselige Zeit!

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Ich kann mich genau erinnern, daß früher der Advent eine recht feuchte Jahreszeit war. Da war es nämlich keineswegs unüblich, in ungeduldiger Erwartung des Christkindes und der damit verbundenen wohltätigen Begleitumstände in Tränen auszubrechen.

Vor allem in unseren Schulen war man um Rührung bemüht. Da wurde Herzergreifendes erzählt oder vorgelesen, da besuchte man Theatervorstellungen fürs Gemüt oder übte auch selber solche ein: mit Engeln und Samaritern, mit Bösewichtern, die sich bekehren, und Wohltätern, die sich durch keine Schlechtigkeit dieser Welt beirren ließen.

Man ließ Choräle und Hirtenlieder erschallen oder übte mit den Schülern das Anfertigen von fragilem Christbaumschmuck und klebrigem Backwerk. Was war das noch für eine zuckersüße Zeit! Es war die Zeit der naiven Pädagogik.

Dann kam die kritische. Erst auf leisen Sohlen, dann mit Macht und Wucht. Sie entdeckte, angestiftet durch bedeutende Professoren, daß diese Welt keineswegs die beste aller möglichen war. Allerorten würde gestritten und gerauft, unterdrückt und übervorteilt. Statt Frieden gäbe es Krieg, statt Liebe Folter.

Wohin man sähe, wäre der Mensch des anderen Wolf, verhielte sich — allerhöchstens — eindimensional und würde durch das Prinzip Hoffnung nur getäuscht, denn schließlich sei man auf dieser Welt verdammt, und wenn zu nichts anderem als zur Freiheit.

Internationale Großkonzerne hätten sich der alten Riten bemächtigt, sie zunächst des Sinnes entleert und sodann mit Konsumrausch und Kauf gier gefüllt — um stets noch mehr Mehrwert in die prallen Tresore einfahren zu können.

Der große Deal

Nun wurde es geradezu Schulpflicht, in der Vorweihnachtszeit Projekte zur Entschleierung und Entlarvung des Weihnachtsrummels anzusiedeln. Möglichkeiten bot einem der Einzelhandel ja dazu in Fülle: Stille Nacht an sonnendurchfluteten Tagen Mitte November und schwitzende Weihnachtsmänner, die noch die Opfergaben des Erntedankfestes in ihren Säcken mit sich führten, so früh waren sie ins Rennen um den Weihnachtsumsatz geschickt worden.

Die Kritik am Weihnachtsrummel wurde ubiquitär. Kaum ein Kommunalpolitiker, der nicht den Verlust der Innerlichkeit der früheren Jahre beklagt, kaum ein musisch begabter Schüler, der nicht einen Weihnachtsgeschäftprotestsong verfertigte, kaum ein Geistlicher, der sich nicht öffent- ' lieh nach den kargen, aber guten alten Zeiten zurücksehnte, als die

Adventskerzen noch der Beleuchtung von rauchigen Stuben und nicht der Verzierung von Computershops gedient hatten.

Und heute: Da leben die beiden Welten fröhlich oder verhärmt, naiv oder kritisch, tüchtig oder relevant nebeneinander her. Die Geschäftemacher machen mit Weihnachten weiterhin Geschäfte, die Meinungsmacher äußern darüber weiterhin ihre Meinung, und mittendrin gibt es einige, die sich weder in einen Kaufrausch treiben lassen, noch in Kritikseligkeit versinken, sondern sich ihren eigenen Weg suchen.

Wenn Sie dazu gehören, dann wünsche ich Ihnen, daß sie einen finden, auf dem Sie gerne und fröhlich gehen — wenigstens das Stückchen bis Weihnachten.

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