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Spiegelungen

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Im Bereich des Wiener Sprechtheaters ereignet sich derzeit Ungewohntes: Während des gesamten Monats Jänner gab es an den Großbühnen keine einzige Premiere. So richtet sich die Aufmerksamkeit in besonderem Maß auf die Kleinbühnen, denen für das Wiener Theater erhebliche Bedeutung zukommt, da sie immer wieder wesentliche Stücke vorführten, die an den Großbühnen nie zu sehen gewesen wären. In letzter Zeit ist allerdings ein Absinken festzustellen.

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Im Bereich des Wiener Sprechtheaters ereignet sich derzeit Ungewohntes: Während des gesamten Monats Jänner gab es an den Großbühnen keine einzige Premiere. So richtet sich die Aufmerksamkeit in besonderem Maß auf die Kleinbühnen, denen für das Wiener Theater erhebliche Bedeutung zukommt, da sie immer wieder wesentliche Stücke vorführten, die an den Großbühnen nie zu sehen gewesen wären. In letzter Zeit ist allerdings ein Absinken festzustellen.

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Da nun kündigte das „experiment am lichtenwerd“ an, in Zukunft außer den Bühnenwerken neuer österreichischer Autoren vor allem Werke von Dramatikern spielen zu wollen, die aus Nationen stammen, deren Bühnenschaffen wir kaum oder gar nicht kennen. Als Beginn wurde das Stück „Alles und ein Postamt“ des 37jährigen Dänen Leif Petersen angesetzt, das im Programmzettel als größter dänischer Theatererfolg seit vielen Jahren bezeichnet wird. Es läßt sich etwa zwischen Wolfgang Bauer und Martin Sperr einordnen. Eine ältliche Kellnerin lebt mit einem Burschen, der ein Mädchen in die Wohnung bringt, worauf sie einen Selbstmordversuch unternimmt und er ihr den Rest gibt, um Alleinbesitzer der Wohnung zu werden. Abscheulichkeiten häufen sich, Eiskälte herrscht, die Brutalität gegen die Schwächere, die Kellnerin, artet aus krassem Egoismus zum Mord aus. Ein penetrantes Negativbild ersteht, wie es Tag für Tag jede Zeitungsseite darbietet, zugleich wird dies im Kleinen zu einer Spiegelung unserer Welt im Großen.

In der trefflichen Aufführung unter der Regie von Erich M. Wolf gibt es deckende Besetzungen: Jolanthe Wührer als Kellnerin, Helmut Side-rits als Mörder und Bernd Palma als sein Bruder, Elfriede Sessler als das Mädchen. Den kleinbürgerlichen Wohnraum entwarf Wolfgang Müller-Karbach. Doch eines wurde verabsäumt: Das ins Hochdeutsch übersetzte Stück, den Figuren entsprechend, im Dialekt wiederzugeben.

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Im „Theater der Courage“ führt ein Gastspiel des Münchner „pro T“-Theaters den Dialog „Michis Blut“ von Franz Xaver Kroetz vor, der schon auf der 4. Experimenta in Frankfurt wiedergegeben wurde. Aus dem wortkargen, abbrevierten Gespräch in derbem bayrischen Dialekt von Karl und Marie, einem primitiven Paar, das sich haßt, geht hervor, daß sie schwanger ist, worauf er eine Abtreibung versucht, die eine Totgeburt zur Folge hat, an der das Mädchen stirbt. Daß sich derlei ereignet, läßt sich nicht bezweifeln, aber wozu wird uns das vorgeführt? Die bundesdeutsche Kritik hebt bei Kroetz bewundernd eine „Sprache der Sprachlosen“ hervor. Also: Es wird die Wesensart primitiver Menschen in verbalen Rudimenten aufgezeigt. Das ist etwas wenig.

Bei der Aufführung hocken die beiden Darsteller — Conni Müller und Nikolai Nothof — einander gegenüber in etwa drei Meter Entfernung, scheinbar am oberen Rand einer lotrechten weißen Fläche, de facto auf einer Bank, die man nicht sieht. Sie sprechen den Text, der nur zwei großformatige Druckseiten umfaßt, in 55 Minuten, sprechen ihn sehr langsam, ohne jeden Ausdruck, ohne Mimik, ohne Gebärden, regungslos, mit Pausen nach jedem Satz, besonders langen nach jeder der fünfzehn Passagen, wobei sie nur während dieser Cäsuren ihre Stellung geringfügig ändern. Kroetz, merkbar selbst Regisseur der Aufführung, übersteigert durch die Art der Wiedergabe seine rudimentäre Sprache. Das

Emotionale ist eliminiert, das Geschehnishafte sinkt völlig unter, das Nichtige, Gemeinplätzige des Verbalen wird zelebriert. Ein packender Versuch. Aber der krasse Widerspruch zwischen der Banalität des Gesprochenen und der geradezu feierlichen Darbietung entblößt letztlich Leere.

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Auf Einladung des Wiener Französischen Kulturinstituts und der Pariser „Association Francaise d'Action Artistique“ kam eines der etwa zwanzig Pariser Cafetheater nach Wien, das sich derzeit auf Tournee befindet. Die Truppe spielte :m Albert-Schweitzer-Haus zwei Einakter des bekannten Romanautors Robert Pinget. „Autor de Mortin“ führt eine Meinungsumfrage nach einem verstorbenen Schriftsteller vor, die Aussagen widersprechen sich völlig. Lediglich das erste der Gespräche wurde auf dem schmalen Podium gespielt, ohne Dekoration, ohne Requisiten, in anderen Szenen lasen die drei Mitwirkenden stehend vom Blatt oder der Dialog ertönte durch den Lautsprecher. In „Abel et Bela“ planen zwei Schauspieler ein Stück zu schreiben, was ihnen witzig mißlingt. Diese Szene wurde sitzend oder stehend, Richtung Publikum, zur Gänze gespielt. In vollem Gegensatz zu unseren Kleinbühnen wirkt diese Art der Wiedergabe improvisiert, das zweite Stück gemahnt an die Doppelconference in Kabaretts. Eine Anregung für unsere Bührrn läßt sich kaum gewinnen.

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