7209895-1992_26_33.jpg
Digital In Arbeit

Stolz auf gelesene Seiten

Werbung
Werbung
Werbung

In der fünften Lieferung aus „Das Buch Thulsern", in der Novelle „Borges gibt es nicht", teilt Gerhard Köpf Nachrichten von den neuesten Schicksalen der Thulser-ner mit. Der Held ist diesmal ein Professor für Lusitanistik. So heißt die Wissenschaft von der portugiesischen Sprache und Kultur; es gibt einen Lehrstuhl dafür an der Universität Duisburg, wo zufällig auch Köpf Literaturprofessor ist. Köpf verfremdet die Disziplin zur „Wissenschaft vom Untergang", denn der Schiffbruch ist - wie bei Julian Barnes - „die einzige Chance im Leben des Menschen".

Das gilt auch für besagten Professor, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals: verlassen von der Geliebten, verachtet von den Kollegen, als Mensch und Wissenschaftler „erledigt". Er flüchtet in „die Welt der Bücher, weil er sein Leben „lieber liest, als es mühselig und hakenschlagend leben zu müssen von Niederlage zu Niederlage". Doch wer anfängt, ganze Bücher zu träumen, der ist für die Realität rettungslos verloren. Für den Professor ist die Wissenschaft eine Frage auf Leben und Tod, -im Gegensatz zu seinen Kollegen an der „Provinzklitsche", sprich: Universität Thulsern. Aus der „Geisterbahn" der Fakultät vertrieben, erhält der Lusitanist überraschend ein Angebot zu einer Vortragsreise. Sie führt ihn nach Macao, die letzte lusitanische Kolonie und mithin Schauplatz der Abschiedsvorstellung des Professors.

Im Flugzeug nach Bandung flüstert ihm der Bücherwurm Christofari ein, daß es Borges nicht gebe, während die Maschine beinahe abstürzt: die erste ungeheure Begebenheit. Die zweite ereignet sich im Zug, als dem Professor ein Bündel vor die Füße rollt, ein Mensch, der offensichtlich überfahren worden war, „das Rückgrat auf derart groteske Weise verdreht, als habe es eine große Gewalt zur Spirale drechseln wollen". Leitmotivisch kehrt dieses Bild wieder, bis der Professor seinem Tod begegnet: das letzte unerhörte Ereignis. Der Thulserner Totentanz wird am fernsten Ufer Europas aufgeführt, im Verwesungsgeruch der Horrorkloake Macao, wo Kirchen Spielhöllen sind und Jesusknäblein Vögel zerquetschen. Tödliche Melancholie, „das langsame Dahinsterben mit offenen Augen", kündet vom Ende der Poesie.

Poesie als Ort der Erinnerung

Nicht mehr Lesegift verschlingt der Lusitanist, jetzt schluckt er die letale Substanz: Rattengift. Der Tod wartet auf ihn in einem Hotelkorridor, kömmt aus einem Spiegel, in der Gestalt eines Blinden, und der Professor sieht das Konterfei, entdeckt einen Doppelgänger, BORGES, und ahnt, es gibt ihn doch. Der Professor stirbt mit letzter Kraft verneinend: „Auch sein Leben, besonders das seine, war lächerlich und gering, und mit dem letzten Schlag seines Herzens sollte eine trotzige Absage hineintönen in diese alles verschlingende Finsternis." Das ist der Tod, wie bei Joseph Conrad, im Herzen der Finsternis. Trotz aller Trostlosigkeit klammert sich die Negation des Professors an eine Hoffnung, denn auch wenn der Tod die Macht der Bücher entzaubert, so klagt die Poesie als Ort der Erinnerung wenigstens „Erbarmen" ein, das überdauern kann „wie die Fliege im Bernstein".

Gerade in der kleineren, strengeren Form der Novelle aber gewinnt der Mikrokosmos Thulsern an Universalität. So führt die große Reise nach Lusitanien doch wieder mitten ins Zentrum des „Weltkaffs". Thulsern ist jetzt mehr als ein imaginärerOrt, es liest sich nun zugleich als Zeichen für ein Bewußtsein, das von Vergeblichkeit, Scheitern und Unglück, aber auch vom Glück der Schönheit in der Vergänglichkeit weiß.

Also hat Köpf doch wieder ein Votum für die Poesie geschrieben, auch wenn er wortmächtig ihre Ohnmacht beschwört. Was das für den Leser bedeutet, sagt am besten Kopfs Held: „Mögen andere sich mi't den Seiten brüsten, die sie geschrieben haben; mich machen die stolz, die ich gelesen habe." In der Novelle findet sich eine weitere wunderbare Liebeserklärung an die Leser des endlosen Labyrinths: „Ich hoffe, die Träume dieses Buches verzweigen sich weiter in der gastfreundlichen Phantasie all derjenigen, die es eines Tages hinter sich schließen."

BORGES GIBT ES NICHT. Eine Novelle. Von Gerhard Köpf. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt/Main 1991. 192 Seiten, öS 249,60.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung