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Südtiroler Spaziergänge

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Ein Gekreuzigter am Rand einer blühenden Wiese, zu seinen Füßen ein Rosenstrauß aus Kunststoff^ aber das hat schon seine Richtigkeit: Er, der, kaum auferstanden, schon wieder da- y hängt, darf auch nicht welken und verblühen.

Sind die Gekreuzigten eine Domäne der Bildschnitzer, weil nur, wer in weiches Material schneidet, solchen Leiden gerecht werden kann? (Wenig später darfst du eine Verwunderung lang vergessen, daß all diese Gekreuzigten eine sadistische Zur-

Schaustellung sind körperlicher Schmerzen: ein Kind tritt an ihn heran, streckt sich und läßt sich von seiner Mutter bestätigen, daß es ihm fast schon bis zur Seitenwunde reicht, nie wird seiner unschuldigen Abgestumpftheit ein Grauen aufsteigen, schaut es von seinem Teller zu dem Winkel mit dem Hingerichteten auf.)

Die hohe Zahl an Bildschnitzer- Kruzifixen in Südtirol, auf allen Spaziergängen hängen sie einem entgegen, alle Wege und Dorfplätze werden zu einem Kreuz- Weg, der einem wie im Traum of-

fenbaren könnte: ein letztes Wunder wirkend, habe er sich viele Male kreuzigen lassen aus Mitleid mit all den Hinrichtungskommandos, denen schon wieder ein anderes zuvorgekommen sei — sind diese Kruzifixe besser als die wie in keinem anderen Alpenland beliebten Schäferhunde auch zur Bewachung von Weingärten geeignet, wen oder was haben sie von den Bauernhäusern, Scheunen und Ställen abzuwehren, wen von den Wanderwegen abzuschrecken, wozu wird ihr Kreuz an Hausmauern genagelt, werden sie eher wie Vorrichtungen zum Wäscheaufhängen oder eher wie Stallgewand zum Lüften auf den Balkon gestellt, haben sie manche Bergtour als schwierig zu kennzeichnen, da und dort einen Dorfbrunnen zu ersetzen, vertreiben sie im freien Feld als Medizin

manner Hagelschlag, bieten sie sich an exponierten Orten Lawinen und Blitzen als Ersatzopfer an, steht auch einer auf dem Übungsplatz des Schützenvereins?

Manchem hat man einen Verschlag gezimmert, ein solcher Unterstand ist leer — ist sein Leichnam gestohlen worden oder ist er auferstanden? (Unter einem anderen Vogelhäuschen mit Leiche steht geschrieben, das Original hätten freche Diebe entwendet — verspottet, nun ja, gegeißelt und mit einer Dornenkrone gekrönt, das geht ja noch an, gekreuzigt dann, das ist sattsam bekannt, aber daß dann einer die Nägel aus seinen Händen und Füßen zieht, ihn vom Kreuz nimmt und wegträgt?! Aber gottlob hat ein Ehepaar aus Westfalen, seit vielen Jahren in… auf Sommerfrische,

auf seine Kosten einen neuen kreuzigen lassen.)

Viele haben im Sterben auch noch natürliche Verletzungen abbekommen, zu angegriffen, um nach der starken Sommersonne die Strafverschärfung — Nackt- mit-Schnee-ummauert-Werden, Nackt-im-Schneetreiben-Hängen — an ihren letzten Zuckungen spurlos vorübergehen zu lassen; einem ist der Brustkorb gespalten wie einem geschlachteten Schwein, einen erdrückt ein Efeubaum mit starken Armen, eines Fleisch beginnt trotz der Auferstehung zu verwesen, aber mancher ist, wenn man näherkommt, dann doch nur wie ein Straßenschild und wie eine Orientierungstafel, jeder Arm weist einen anderen Weg zu demselben Dorf.

Während einer Autobusfahrt ins Schnalstal beginnst du sie zu zählen, auch um zu schätzen, auf wie viele ehemalige gute Hirten in Ruhe beziehungsweise nie endenden Sterbens ein Schäferhund kommt, aber angesichts des dritten Hundes im ersten Dorf läßt du das Zählen und den Blick des Jägers sein, der ohne Umschweife allzu sicher auf ihre Lieblingsplätze trifft, auch wenn sie sich nicht rühren: ihre Zahl könnte allzu schnell die eines kleinen Konzentrationslagers erreichen.

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