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Uneinge-ordnet

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Mein Freund Hockenbein hatte das Pech, daß ihm das Mädchen, in das er verliebt war, ein anderer weggeheiratet hat. Dann hatte er das Glück, daß wieder ein anderer das Mädchen geheiratet hat, das in ihn verliebt war. So lebt er unverheiratet und unliiert und ist, soziologisch wissenschaftlich gesehen, ein Single.

In Wirklichkeit ist er nicht so ganz Single, denn er hat einige nette Freundinnen, die bei ihm ein- und ausgehen: zwei Geschiedene, eine Verheiratete und sogar eine junge Witwe (ganz ledige meidet er aus Sicherheitsgründen).

Somit ist er praktisch ein Pluri oder ein Multi - ich weiß nicht, wie man so einen nichtsinglehaften Single wissenschaftlich nennt.

Im Fernsehen gab es neulich einen Film mit Ratschlägen für Singles, ich habe ihn jedoch verpaßt. Schade - vielleicht hätte ich erfahren, ob ich ein Single bin oder nicht, wo ich doch mit meinem Sohn lebe. Ich denke mir unsoziologisch, daß wir eine Familie sind, wenn auch eine kleine; wissenschaftlich gesehen, sind wir vielleicht aber ein Doppelsingle. Schließlich kenne ich genug Ehepaare, die in Wirklichkeit Doppelsingles sind.

Das ist sehr wichtig zu wissen. Denn, bin ich ein Single, gibt es für mich eine besondere Literatur, Ratschläge, Beratungsstellen, Mode und Experten, die mir sagen, wie ich leben will und muß; bin ich dagegen keiner, muß ich mich an andere Experten wenden.

Heute muß man bis ins Detail genau eingeordnet und bezeichnet werden.

Würde zum Beispiel mein Freund Hockenbein heiraten (die Witwe ist fleißig am Werk, ihn dazu zu bringen), ist er kein Single mehr, sondern ...

Na ja, ich weiß nicht, wie man das Gegenteil nennt - da habe entweder ich eine Lücke oder die Soziologie. Früher hätte man ihn amtlich „Familienoberhaupt” genannt, was heute ziemlich lächerlich klingt und ist. „Ober” zu sein, wenn er geheiratet hat, hat er keine

Chance, und - wie ich die Witwe kenne - hat sie ein Köpfchen, neben dem sich sein „Haupt” nicht durchsetzen kann.

Würde er mal seiner Frau sagen, sie soll das Geschirr abwaschen, ist er ein männlicher Chauvinist. Würde sie ihm darauf antworten, er soll es doch selbst machen, sie sei auch nach der Arbeit müde, ist sie eine Frauenrechtlerin.

Eine Feministin oder gar eine Emanze ist sie dadurch noch nicht - als Feministin hätte sie ihn für die Frechheit, von ihr Hausarbeit zu verlangen, zumindest mit einem Monat Liebesentzug bestrafen müssen; als Emanze hätte sie ihn vielleicht heiraten, aber überhaupt nicht lieben dürfen.

Um Hockenbein richtig und volU ständig zu klassifizieren, fehlen mir mehrere Angaben. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob er ein Kernkraftgegner oder -Anhänger ist - die kann man schlecht voneinander unterscheiden, weil sie alle genau so viel Strom für ihre vielen Geräte und genau so viel Benzin Tür ihre Autos verbrauchen.

Ich weiß nicht einmal, ob er ein Progressiver oder ein Reaktionär ist: Ich habe ihn schon über Breschnjew und über Carter schimpfen hören, und vor den Chinesen hat er auch Angst; er mag

Kroetz und nackte Ophelias im Theater nicht, haßt aber auch die Oper; er geht nicht demonstrieren, regt sich aber über Demonstrationen nicht auf, solange sie nicht gewalttätig werden, und meint nicht, daß die ganze junge Generation nichts taugt und mehr harte Arbeit und Disziplin brauche.

Hockenbeins Beziehung zum Umweltschutz und zu den Grünen ist mir schleierhaft. Er macht zwar gern Ausflüge in die freie Natur und hinterläßt daselbst keinen Müll; er hat jedoch nicht protestiert, als man in seiner Nähe eine Wiese mit Sozialwohnungen verbaute, und ißt widerspruchslos Braten von gespritzten Kälbern sowie auch Eier von Käfighühnern.

Dieser Mensch ist einfach wissenschaftlich nicht einzuordnen. Das ist schlimm. Wenn man wüßte, daß er zum Beispiel ein Ehetraditionalist, männlicher Chauvinist, Kernkraftbefiirworter und Umweltverschmutzer oder umgekehrt überzeugter Single, feministischer Softi, Kernkraftwerksgegner und Grüner ist, wüßte man, welche Literatur und welche Experten man ihm empfehlen könnte, die ihm sagen würden, wie er leben und wie er denken muß.

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