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Verzauberung durch Musik

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Frank Martin, der als zehntes Kind einer Pfarrerfamilie im Jahre 1900 in Genf geboren wurde, empfing seine ersten Und stärksten Kunsteindrücke von Bachs „Matthäuspassion“. Spater gewann die Musik und Ästhetik Debussys dominanten Einfluß. Aber schon vor 30 Jahren ist er ein ganz Eigener, Selbständiger geworden: Unter den noch lebenden Meistern dieser ersten Jahrhunderthälfte ist seine Erscheinung die profilierteste, seine Musik die eigen-artigste und in den reifen Werken nach spätestens zehn Takten zü erkennen. (Wir haben seine Persönlichkeit und sein Werk an dieser Stelle wiederholt gewürdigt.)

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Frank Martin, der als zehntes Kind einer Pfarrerfamilie im Jahre 1900 in Genf geboren wurde, empfing seine ersten Und stärksten Kunsteindrücke von Bachs „Matthäuspassion“. Spater gewann die Musik und Ästhetik Debussys dominanten Einfluß. Aber schon vor 30 Jahren ist er ein ganz Eigener, Selbständiger geworden: Unter den noch lebenden Meistern dieser ersten Jahrhunderthälfte ist seine Erscheinung die profilierteste, seine Musik die eigen-artigste und in den reifen Werken nach spätestens zehn Takten zü erkennen. (Wir haben seine Persönlichkeit und sein Werk an dieser Stelle wiederholt gewürdigt.)

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Mit dem zuletzt aufgeführten „Zaubertrank“ hat es seine besondere Bewandtnis, und neben der „Petite symphonie concertante“ ist es das meistaufgeführte Werk des Meisters. Bei der Uraufführung in Genf am 12. Jänner 1940, in finsterer Zeit (auch für die Schweiz) lautete der Untertitel „Weltliches Oratorium“. Aber es kam sogar zu szenischen Aufführungen bei den Salzburger Festspielen, und jetzt, im Programm des Konzertes im Großen Musikvereinssaal, heißt es „Der Zaubertrank — Nach drei Kapiteln von Tristan und Isolt von Joseph Bedier.“ Also nicht nach Gottfried von Straßburgs epischer Riesenromanze, sondern nach einer sehr kultivierten, poetischen Nacherzählung, die in Frankreich — bis vor kurzem wenigstens — Liebesleute sich zu schenken pflegten (so kam ein Literarhistoriker und Romanist zu Bestsellerehiren!). Bechers Sprache ist von kunstvoller Einfachheit, und erst in der französischen Fassung kommt der Text in der überaus sensiblen Vertonung Martins ganz zu seiner Geltung (Martin ist frankophon und hat es, trotz mehrjähriger Lehrtätigkeit an der Kölner Musikhochschule, fertiggebracht, nicht Deutsch zu lernen).

Er ist Genfer geblieben — in mehrfacher Hinsicht. Da ist sein Sinn für Maß und Ordnung, der bis zum Raffinement ausgebildete Geschmack, nach dem Prinzip „Alles prüfet, aber nur das Beste behaltet!“ — und nicht zuletzt die Ökonomie der eingesetzten Mittel (im „Vin herbe“ sind es sieben Streicher nebst Klavier, ebensoviel Solisten) und ein kleiner gemischter Ohor. — Im Hinblick auf Wagner, den Martin nicht sehr mag, gewissermaßen ein „Anti-Tristan“ — und ein aus ähnlicher Kunstanschauung entsprungenes Werk wie Debussys „Pelieas et Melisande“, das Martin sehr, liebt.

Das Wichtigste aber ist die musikalische Sprache, die Martin für sich gefunden hat. Was die Singstimmen betrifft, so bedient er sich der Zwölftontechnik, .hingegen ist die typisch Martinsche Harmonik durch einen Chromätismus besonderer Art, durch frei fließende Akkordverschiebungen und die Bevorzugung der kleinsten Schritte (Sekund) gekennzeichnet. Dieses Tristan-Oratorium ist zugleich Zeugnis einer introvertierten, aristokratischen Haltung, der zwar Dramatik nicht fremd ist, Exhibitionismus und Ekstase aber ein Greuel sind. (Hofmannsthal spricht einmal von der „unerträglichen Wagnerschen Liebesbrüllerei“.)

In Wien hörten wir die erste Aufführung von „Le vin herbe“ im November 1947, dann folgte 1952 die nächste und — wenn unsere Chronik vollständig ist, die vorletzte am 1. Dezember 1967. Es waren Präsentationen von sehr verschiedenem Charakter und Wert (unter Herbert Häfner, Anton Heiller und Bruno Maderna). Stets bewunderte man die großartige Einheitlichkeit der Faktur, den Personalstil Martins und die Ökonomie der Mittel, immer wieder an das Goethesche Epigramm in „Natur und Kunst“ denkend: „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.“

Die vorläufig letzte Aufführung unter Miltiades Caridis lag — hier ist das Klischee einmal erlaubt — in den besten, weil sensibelsten Händen: Miltiades Caridis leitete ein Ensemble des ORF, das kaum einen Wunsch offen ließ;, (Chor und sieben Streicher unter der Führung Viktor Redtenbachers und Rainer Keuschnia am Flügel). Die durchwegs trefflichen Solisten wollen wir nicht im einzelnen werten, sondern nur nennen: Donald Grobe und Helen Donath (Tristan und Isolde), ferner Elisabeth Schwarzenberg, Heid Bun-ger, Ingrid Mayr, Anne Gjewang, Herbert Nitsche und Artur Korn in jenen Partien, die wir auch aus Wagners „Tristan“ kennen. — Der Chor und einzelne Chorsolisten haben in Martins „Zauibertrank“ die Funktion des Erzählers: eine Verfremdung und Objektivierung zugleich. Obwohl es zu keinerlei dynamischen Ausbrüchen und Liebesekstasen kommt, ist das Werk dramatisch und spannend. — Schade, daß so viele Abonnenten des „Orgelzyklus“ sich dies Erlebnis, das zugleich auch eine Lektion in Ästhetik war, entgehen ließen. Entsprechend den Leistungen war der Beifall für alle Ausführenden und für das auch in den Dimensionen wohlproportionierte Werk (zwei Akte zu je 30 Minuten, hierauf Pause und zum Schluß ein 3. Akt von etwa einer Dreiviertelstunde).

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