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Digital In Arbeit

Vom Erlernen der Bilderschrift

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Werbematerial, das unerbeten ins Haus kommt, ist nicht nur eine Plage. Es erzählt Geschichten, trommelt aus, zeigt eine schönere Welt und faszinierende Menschen, ist mehr als Material, da seine Wirkung Betrachterinnen in Bewegung bringt und zum Kaufen veranlaßt.

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Werbematerial, das unerbeten ins Haus kommt, ist nicht nur eine Plage. Es erzählt Geschichten, trommelt aus, zeigt eine schönere Welt und faszinierende Menschen, ist mehr als Material, da seine Wirkung Betrachterinnen in Bewegung bringt und zum Kaufen veranlaßt.

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Die neueste Mode für Herren wird da von Männern, die viel erleben - die City, den Strand, ein Unwetter in den Bergen, eine Party - nicht vorgeführt, sondern während der Erlebnisse getragen, angehabt. Wenn der Prospekt von nur zwei Männern bespielt wird, ist der eine blond, der andere dunkelhaarig.

Dabei kommt es vor, daß der Blonde größer ist oder größer wirkt, den Gesichtsausdruck überhaupt nicht oder nur minimal ändert, die weniger grellbunte Kleidung trägt, verhaltener lächelt, manchmal verspannt dasteht, Unsicherheit und sogar Verlegenheit erkennen läßt, enorm sehnsüchtig ins Unbekannte schaut und mehr in der Hose verborgen hat als der Dunkle, dieser ist dann unbedingt lockerer, hat tausend Gesichter, wirkt beweglicher, impulsiver und kann ernstlich aggressiv werden, was der B londe nur ungeschickt mimt. Der Dunkle will flirten und allenfalls Liebe-machen, der Blonde sehnt sich nach einer Partnerin, trägt an seiner Wichtigkeit und hält es offenbar ohne Lebensplanung schlecht aus. Wenn er im Regen stehen gelassen wird, ist er verzweifelt, der Dunkle schüttelt sich nur und lacht.

Auch Prospekte für Kinder-Mode enthalten solche Werbe-Spiele, die kleinen dunkelhäutigen Kinder werden von - auf den Fotos - fast ausnahmslos größeren blonden Kindern großmütig in die Szene gezogen und schauen geschmeichelt oder hingerissen zu ihren blonden Freunden/Freundinnen auf.

Die Firmen wissen, mit welchem „Material" sie da arbeiten. Manche Betracherinnen der Prospekte wissen es inzwischen auch und bemühen sich sogar beim Zeitunglesen, Werbebeilagen, Werbeeinschaltungen, bezahlte Anzeigen von Information und Informationsverarbeitung zu unterscheiden, man will ja schließlich mitbestimmen, wann man sich welcher Beeinflussung aussetzt, und ob überhaupt. Wenn eine Zeitung auf die Idee kommt, ihre Leserschaft mit fröhlicher Buntheit zu verwöhnen, muß es sich nicht zwangsläufig um „Material" im Sinn der Beeinflussung handeln, nein, natürlich muß das nicht unbedingt der Fall sein - es kann aber trotzdem so laufen.

Ein Werbe-Prospekt, die zukünftige Finanzierung der Pensionen betreffend, erfreut da nicht nur mit Farbfotos und mehrfarbigem Text, auf einer Seite sind sogar alt-modische Bildchen, die an Scherenschnitte erinnern, schön koloriert am linken Rand der Seite untereinandergereiht, auf den ersten Blick Szenen aus dem schweren Leben der Armen im Volk, nicht scherenschnittschwarz, sondern bunt, fünf Bildchen mit fünf Herangewachsenen und zwei Kindern. So der linke Rand der Seite, den ganzen rechten Rand beansprucht ein riesiger in Schwarz und Rot gehaltener Bonze mit voluminösem Bauch. Zwischen den teilweise untergewichtigen Armen und dem Riesen befaßt sich ein großgedruckter Text, der Wampe des Großverdieners ausweichen müssend, mit den Ängsten von Pensionistinnen und Menschen, die das noch werden wollen, um ihre Zukunft beziehungsweise um die Pensionen.

Die Absicht der Bebilderung ist durch die Größen verhältnisse auf den ersten Blick zu erkennen, aber wer glaubt, wenigstens die kleinen Scherenschnitte seien nur der angenehmen Buntheit zuliebe in Farben gedruckt (oder weil das Schwarz halt für den Bonzen gebraucht wird), hat die Gründlichkeit der Farbenmischer unterschätzt.

Wenn man die Bildchen sorgfältig betrachtet - wie es Menschen, die selbst einmal Scherenschnitte gemacht oder geschätzt haben, wahrscheinlich tun -, entdeckt man unter den Armen einen Karrieristen, und zugleich beginnt die Colorierung zu „sprechen" und bestimmte Gefühle zu verstärken, falls der/die Bildchen-Anschau-ende Armut, Rechtlosigkeit, Unterdrückung und das Buckeln jener, die den Reichen einträglich um den Bart gingen, selbst erlebt hat.

Was jüngere Menschen vielleicht als nostalgische Behüb-schung einstufen und nicht näher anschauen, war den Farbenmischern trotzdem eine durchdachte Farbenverteilung wert. Es könnte ja sein, daß ein alternder Mensch das in Worten Gedruckte nicht mehr gut aufnehmen und behalten kann, der läßt sich dann immerhin noch beim Bildchen-Anschauen materialkundig bearbeiten.

Die Methode hat etwas vom Wesen der Bilderschrift. (Wer bis jetzt nur Buchstabenschrift lesen gelernt hat, sollte vielleicht nachlernen, damit er/sie sich Emotionen und Verhaltensweisen verschiedener Mitmenschen, die im Bilder-Anschauen versiert sind, eher erklären kann.) In Furcht vor Menschen und Göttern lebende Hieroglyphen-Pinsler sind nicht mehr am Werk, die neuen Bilderschrift-Schreiber sehen nicht nur ihre Möglichkeiten, sie machen auch davon Gebrauch.

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