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Vom Jäger zum Gejagten

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„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!" warf Doktor Leid, nachdem er das Elaborat gelesen hatte, Tibor den diesmal wahrlich nicht spaßhaft gemeinten Brillenrandblick zu. „Sie meinen..."

„Wollen Sie mir wirklich einreden, daß eine verzögerte Brillenreparatur Ihr größtes Problem sei?"

„Es war sehr große Problem."

„Wieviel Dioptrien hat Ihre Brille?" wollte Doktor Leid wissen.

„In Wirklichkeit drei, ich glaube."

Er nahm die Brille ab und begann die Gläser mit einer Sorgfalt zu putzen, als ob er jede Dioptrie einzeln behandeln wollte.

„Ich hoffe, daß später, mit 60 oder 70, wenn Weitsichtigkeit zunimmt, Kurzsichtigkeit verschwindet, und ich muß in Alter keine Brille tragen."

„Ihre Sorgen möcht' ich haben!" lachte der Doktor.

„War wirklich große Sorge."

„Wirklich?" Doktor Leid entließ ihn nicht aus seinem Blick.

„Nein", ergab sich der junge Ehemann kleinlaut.

„Soll ich Ihnen sagen, was dahinter steckt?" fragte der Doktor.

Das ist ja der Zweck der Übung, hätte jetzt der Ungar gesagt, wenn er es so ausdrücken hätte können. Statt dessen schaute er den Psychiater lieber fragend an. Dieser erklärte die Sache so:

„Sie haben Probleme, die Ihnen über den Kopf wachsen. Die Sie zu erstik-ken drohen. Sie haben Angst, daß Sie das, was auf Sie zukommt, nicht bewältigen können. Ihre Selbstsicherheit scheint Sie zu verlassen. Also weichen Sie auf ein läppisch kleines Ärgernis aus, womit Sie umso leichter fertigwerden, da es eigentlich gar kein Problem ist, und präsentieren mir dieses. Was sagen Sie dazu?"

„Erstens: Meine Selbstsicherheit

verlaßt mich nie..."

„Ein gutes Zeichen, daß Sie sich noch wehren. Und zweitens?"

„Hab ich andere Variationen von was ist mit mir los. Darf ich sagen?"

„Ich bitte drum."

„Riesengroße Problem, was Sie haben erraten, macht mir nicht angst, sondern wütend! Macht mir wahnsinnig! Und macht mir so nervös, daß alles mich aufregt, und wenn es auch nur die kleinste Brille ist. Dann ich mache winziges Problem zu Hauptproblem, und solange das ist nicht gelöst, ich kann mich nicht mit Scheißproblem, pardon, beschäftigen. Wissen Sie, Herr Doktor, wie heißt das? Verdrängung!"

„Bravo! Phantastisch! Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich Ihnen meine Praxis übergebe!"

„Es beehrt mich, aber kann ich lei-

der nicht annehmen."

„Wieso eigentlich nicht?"

„Weil ich weiß auch, daß ich bin bißchen verrückt."

„Ich wahrscheinlich auch. Ein ganz klein bißchen darf auch ein Psychiater verrückt sein."

„Warum nicht?" philosophierte Tibor. „Verrückt sein ist menschlich... Sie nicht nur haben Humor, sondern auch Eigenhumor, wenn Sie verstehen, was ich will sagen. Sie können auch über sich lachen."

„Sie etwa nicht, Tibor?"

„Doch, kann ich. Wir Ungarn können über uns lachen. Außer man lacht über unsere Nationalstolz, dann wir können nicht mitlachen. Oder über ungarische Charakter wie große Herz oder leichte Lebigkeit oder unsere Akzent oder über viele-viele berühmte Ungarn in die ganze Welt. Wissen

Sie, wie viele berühmte Ungarn gibt's? Zum Beispiel, wenn ich nur aufzähle..."

„Weiß ich, weiß ich. Um auf unser Problem zurückzukommen - wann schreiben Sie?"

„Was, bitteschön?"

„Ihre Gedanken über die Eifersucht ihrer Frau..."

Das war kein Stoff für einen 24-oder48stündigen Liefertermin. Tibor konnte es auch nicht abschätzen, ob dieses Thema sich für eine gewissermaßen belletristische und satirische Bearbeitung eignen würde.

Es dauerte ganze drei Wochen, bis er wieder erschien und dem Doktor seine Abhandlung vorlegte.

Aus: TIBOR GOES WEST oder EIN UNGAR KOMMT INS PARADIES. Von Georg Kövary. Verlag Styria, Graz/Wien/Köln 1992. 179 Seiten, öS 198,-

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