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Warten ohne Kalender

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Sie heimkommen hören, ich habe in meinem Alter sehr viel ungebrauchtes Warten, das Warten hat seine eigene Zeit, wenn es bei sich bleibt und keine Öffnung mehr hat, so ein Warten ist ohne Kalender, ohne Stundenzählung, von aller Zeit vergessen —

Sie lauere Heimkehrgeräuschen auf, redete die alte Frau inmeinen zerfallenden Schlaf, Schritten, Schlüsseldrehen, Türen-offnen, Türenschließen, Schritten dann wieder, man höre dabei dem Gewohnheitsglauben, daß morgen auch ein Tag sei, dieses fahrlässige Hoffen, das den Tod herausfordern müsse, den Tod um elf Uhr vierundzwanzig—ja, so einem Tod bin ich noch immer auf der Spur, sagte die alte Frau, der Quittung für die Zuversicht, daß morgen auch ein Tag sei. Wenn nämlich morgen auch ein Tag ist, dann ist er es nur zufällig; haben Sie schon einmal bedacht, wie zufällig das ist, was wirklich ist, gemessen an dem, was möglich wäre? Darum hat alles Wirkliche so viel Schrecken eingebaut... Was ist geschehen?, fragen die Leute, und: es ist passiert, antworten die Leute, und so wird einer weggetragen, der geglaubt hatte, daß morgen auch ein Tag sei...

Und dann war das Zimmer voll von den Augen der alten Frau, so scheint es mir in der Erinnerung, und voll von einem einzigen Schrei, und inmitten dieses Schauens aus diesen Augen und der Stille, die nach diesem Schrei in Fetzen im Raum hing, waren Bewegungen und Hantierungen einiger Männer, die, einander drängend, das Zimmer betreten hatten, und die Hantierungen waren überlagert von Worten, falschen Ruheworten und festen Weisungen, und dann faßte einer die alte Frau an und faßte sie noch einer an und beide entfernten sie, taten sie einfach hinaus und hinweg, mich keinesfalls beachtend, nur ein beiläufig bekleideter Mensch sagte an der Tür, daß er die Störung bedauere, der Mann der alten Frau habe doch einen Revers in der Klinik unterschrieben, allein man sehe, wohin Nachsicht führe mit Irren, und der Nachtportier werde seiner Nachlässigkeit wegen ausdrücklich verwarnt werden unter Androhung fristloser Entlassung.

Und Schritte, Schritte, und ich dachte, daß die Männer nun Schweigen und Elend und Verstummen dahintrügen über ihren Schritten und die Klinik sicher schon verständigt sei.

Ich war wach und dachte, daß ich nun endlich schlafen müsse, und als ich darüber einschlief, dachte ich, immer noch wach zu sein und endlich einschlafen zu müssen, und dieses Denken im Schlaf, wach zu sein, machte eine Nervosität und cerebrale Uberbelichtung, man spürt Spannungen im Gehirn, man wünscht, den Kopf in Finsternis zu tauchen, schlafend wünscht man in Schlaf zu tauchen —

In den Schlaf wird eine Tür geöffnet, wird eine Tür geschlossen, sind Schritte, ist eine Pause, ein Warten, ich gebe den Schlaf an das Wachen zurück, ich sage: ja?, fragend sage ich ja?, gegen die Tür hin und die Schritte, die in Gehör noch sind oder Schlaf und Traum, gegen das Warten hin —

Machen Sie Licht, machen Sie sofort Licht, sagte sie leise unter aufgerauhtem Atem und drückte auf den Schalter, und bleiben Sie liegen, sagte sie, da es mich ins Sitzen gerissen hatte, bleiben Sie liegen, ich gebe zu, der Besuch einer alten Frau, unerbeten und unter Umständen, die ja keine sind, ist nicht leicht in Konvention unterzubringen, Sie werden jedoch anerkennen, daß ich Ihnen behilflich bin, indem ich beinahe zugleich mit dem Betreten des Zimmers mich zusammen mit meinem Alter ins Licht stelle... Ich habe

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