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Weltgeschichte(n)

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„Die Wirtschafts-Psychiatrie“, sagte Doktor Normus Dreher, der Chefarzt der kleinen, aber außerordentlich teuren, hinter hundertjährigen Platanen verborgenen Privatklinik „Sanitas“ zu mir, „ist der jüngste Spezialzweig unserer Wissenschaft, und hier wiederum haben wir uns auf die Behandlung bestimmter, zum Glück noch seltener, aber überaus gefährlicher Krankheitsbilder spezialisiert.“

,fiie Krankheit befällt nur Topmanager?“ fragte ich.

„Nein“, sagte Doktor Dreher, „aber wenn sie bei Führungskräften minderen Ranges auftritt, wendet man eine andere, billigere Behandlungsmethode an.“

„Welche?“ sagte ich.

„Hinauswurf“, sagte Doktor Dreher, „aber das geht natürlich nicht, wenn ausgerechnet ein Präsident, ein Vizepräsident, ein Generaldirektor oder gar ein Mitglied des Äufsichis-rates befallen wird.“

„Wie“, wollte ich wissen, „erkennt man eigentlich die Frühstadien dieser geheimnisvollen Seuche?“

„Da wir es mit einem hochdifferenzierten Krankheitsbild zu tun haben, sind auch die Frühsymptome überaus komplex“, sagte die Kapazität, „echte Früherkennung ist fast ausschließlich durch intensive Selbstbeobachtung jeder Person, die der Risikogruppe angehört, möglich. Dazu bedarf es aber noch einer gründlichen Aufklärungsarbeit. Wir bekommen die Patienten fast immer in einem sehr weit vorgeschrittenen Stadium. Ich zeige Ihnen einen Neuankömmling!“

Der Mann saß apathisch in seiner karg ausgestatteten Zelle, sah mich irren Blickes an und sagte: „Sind Sie in der glücklichen Lage, eine sinnvolle Tätigkeit ausüben zu dürfen?“

Der Chefarzt zog mich schnell wieder auf den Gang hinaus, schloß die Tür ab und sagte: ,Jüeser Faü zum Beispiel hat damit begonnen, daß der Mann eines Tages plötzlich mitten in einer Vorstandssitzung aufstand und erklärte, neunzig Prozent der vom Konzern produzierten Dinge würden den Käufern keinerlei Vorteile bringen, weshalb man ihre Produktion einstellen sollte.“

„Glatter Wahnsinn“, sagte ich.„Eben“, sagte der Doktor, „und derlei geschieht immer öfter. Heute wurde der Werbechef eines Weltkonzerns eingeliefert, der seinem Generaldirektor plötzlich erklärt hatte, die neue Werbekampagne habe der Firma zwar 300 Prozent mehr Umsatz und 500 Prozent mehr Gewinn gebracht, aber man solle sie trotzdem sofort einstellen, denn sie erwecke in den Konsumenten Erwartungen, denen das Produkt niemals gerecht werden könne. Hier sehen Sie einen besonders erschütternden Fall.“

Der Mann lag weinend auf einer harten Pritsche. „Was hat er angestellt?“ wottte ich wissen.

„Er ist Stellvertretender Generaldirektor eines Weltkonzerns. Vor drei Wochen schrieb er für die Kun-denzeitmyg seines Konzerns einen Artikel, in dem er die Fordinmg aufsteüfoafjchi^ nur Staaten, soa^yw, auch Firmen sollten Beiträge für Entwicklungshilfe zahlen. Er denke an ein Promille vom Umsatz.“

„Sagen Sie“, sagte ich, „häufen sich derartige Anfälle in letzter Zeit?“

„Leider ja. Wir haben da Fälle — Sie würden es gar nicht für möglich halten. Grauenhaft, sage ich Ihnen. Aufsichtsratspräsidenten, die aus freien Stücken Millionen investieren wollten, um die Umweltbelastung durch ihre Anlagen zu verringern. Verkaufschefs, die doch tatsächlich nach dem Beitrag ihrer Produkte zur Lebensqualität zu fragen begannen.“

„Bedauernswert“, sagte ich, „wirklich bedauernswert. Wie sind eigentlich die Heilungschancen?“

„Die liegen bei etwa siebzig Prozent“, sagte er, „die Rückfallquote ist aber leider noch immer sehr beträchtlich. Mancher Patient war schon zwei- oder dreimal bei uns.“

„Ist die Krankheit ansteckend?“ wollte ich wissen.

„Vernunft ist bekanntlich nicht ansteckend“, sagte der Arzt, „pardon, eine Fehlleistung, ich meine natürlich, Unvernunft ist leider sehr ansteckend. Aber nun einmal ganz privat — ist es wirklich so dumm, nach dem Sinn dessen, was man produziert oder verkauft, zu fragen?“

Er wollte es offensichtlich ganz leise sagen, aber er schrie es förmlich hinaus. Drei Wärter stürzten auf ihn zu und stülpten ihm eine Zwangsjacke über.

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