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Wiener Schmarrn

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Die Weltstadt Wien droht hoffnungslos zu versumpern. In den letzten Nummern wurden die schweren Fehlleistungen der Stadt Wien und die daraus resultierende Wien-Flucht aufgezeigt. Kein Wunder, daß die Altersstruktur der Bundeshauptstadt eine starke Überalterung aufweist, denn viele junge Menschen ziehen es heute vor, dorthin abzuwandern, wo dem jungen Menschen mehr Chancen eröffnet werden.

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Die Weltstadt Wien droht hoffnungslos zu versumpern. In den letzten Nummern wurden die schweren Fehlleistungen der Stadt Wien und die daraus resultierende Wien-Flucht aufgezeigt. Kein Wunder, daß die Altersstruktur der Bundeshauptstadt eine starke Überalterung aufweist, denn viele junge Menschen ziehen es heute vor, dorthin abzuwandern, wo dem jungen Menschen mehr Chancen eröffnet werden.

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Das Unbehagen setzt bereits im Vorschulstadium ein:

• Es gibt in Wien zu wenig Kindergärten beziehungsweise Kindergartenplätze. Auch was Kinderspielplätze betrifft, ist eine beachtliche Unterversorgung festzustellen. Dennoch ist die Gemeinde Wien nicht bereit, die privaten Kindergärten — die immerhin etwa die Hälfte der Wiener Kindergartenplätze betreuen — zu fördern, ja es wird seitens der Stadtverwaltung ständig versucht, den Privaten das Wasser abzugraben.

• Das derzeitige Kindergarten-Bautempo läßt die Einführung eines Vorschuljahres in Wien in den nächsten 10 bis 15 Jahren nicht erwarten.

• Die Unfallstatistik bei Wiener Kindern ist nicht zuletzt auf eine mangelhafte Verkehrserziehung und ungenügende Absicherung von Schulwegen zurückzuführen.

• Regelmäßige Gesundheitskontrollen der Wiener Kinder sind nur selten, fehlende einheitliche „Krankengeschichten“ für Schüler behindern eine effiziente Betreuung, mangelnde Information über Krankheiten, die noch immer verschleppte Einführung des Faches „Gesundheit und Hygiene“ im Unterricht und die peinliche Vermeidung sexueller Erziehung in der Schule, sowie eine fehlende Informationskampagne über die schädlichen Auswirkungen von Alkohol, Nikotin und Rauschgift tragen eher zum Unsicherheitsgefühl der Jugend in der Großstadt bei, statt es zu vermindern.

Gerade in der Großstadt vollzieht sich aber die Loslösung vom Elternhaus abrupt und es wird — bei ungenügender Vorbereitung — eine harmonische Eingliederung in die Gesellschaft verhindert.

Aus diesem Grund ist es auch unverständlich, daß es in Wien kaum Informationen über Freizeitbetätigung gibt und daß die Jugendverbände — im harten Konkurrenzkampf untereinander — nicht gezielt gefördert werden.

Auf einen umfassenden Sportstät-tenleitplan für Wien wird seit Jahren vergebens gewartet, das Sportbudget der Gemeinde Wien stagniert und es gibt zuwenig saisonunabhängige Sportanlagen; die bestehenden Sportanlagen sind oft mangelhaft ausgestattet, viele haben keine Beleuchtung, ein Wie-

' ner Hallenbad mit einem (international vorgeschriebenen) 50-Meter-Becken fehlt.

Das äußerst wichtige berufskund-liche Forschungs- und Informations-wesen in Wien ist erst ansatzweise vorhanden.

Im Gegensatz zu anderen österreichischen (und ausländischen) Hochschulstädten werden hingegen die Wiener Hochschulen von der Stadt fast überhaupt nicht gefördert!

Nicht nur Wohnungssuchende Jugendliche haben es in Wien schwerer. Auch Eltern in großen Wohnsiedlungen wird die gedankenlose Planung der Wiener Stadtväter bald bewußt. Neben dem bereits erwähnten Mangel an Kindergärten und Kinderspielplätzen (im dünner besiedelten Niederösterreich entstanden bereits mehr Kinderspielplätze als in Wien) gibt es auch in großen Wohnsiedlungen keine Räume für Jugendliche, keine Mittel für den Ausbau von Dach- oder Kellerräumen für Jugendliche, eine nur langsam betriebene Reorganisation von Jugendheimen sowie eine gewisse Diskriminierung des Heimerzieherberufes.

Im kulturellen und Freizeitbereich manifestiert sich das Unbehagen in einer starken Abwanderungsbewegung kulturell Tätiger, in latenter Unzufriedenheit der Hiergebliebenen, vor allem aber in der Abwesenheit breiter Publikumsschichten vom Kulturbetrieb und in der zunehmenden Ent-Ästhetisierung der Bundeshauptstadt.

Der Humus für diesen Zustand ist eine kulturneutrale Atmosphäre, die Verbürokratisierung und Verpoliti-sierung des Kulturgeschehens, keine Entscheidungstransparenz für Maßnahmen und Förderungen im Rathaus und eine Reihe von Fallstricken für kreativ Tätige.

Die Stadt Wien besitzt in Wien nur ein eigenes Theater; im Bereich der darstellenden Kunst sowie im Musikleben dominiert ein bürokratisch-museales Verständnis und die Filmförderung der Stadt Wien ist verfehlt.

Wer diesen Problemen näher auf den Grund geht, beginnt alsbald im Sumpf zu waten. Einerseits muß für die hinlänglich bekannte Wiener Filmpleite bis 1995 das zwar weniger bekannte, dafür aber um so emftnd-lichere Sümmchen von rund 250 Millionen Schilling bezahlt werden, während anderseits die anspruchsvolle Film-Viennale mit nur 870.000 Schilling bedacht wurde. Dem berufs-progressiven Jungfilmer

Schönherr wurde jedoch bereitwilligst mit einer Million Schilling unter die schwachen (roten) Arme gegriffen.

Das Filmzentrum der „Stadthalle“ steckt zwar noch immer in den roten Zahlen, obwohl kulturell wertvolle Filme in zunehmendem Maß durch Brutalitäts- und Sexprodukte ersetzt werden, etwa „Vampyros Les-bos“, „Beiß' mich Liebling“ oder „Robin Hood und seine lüsternen Mädchen“.

Es nimmt nicht Wunder, daß der im Rathaus gekochte Kultur-Schmarrn vielen Wienern nicht schmeckt; wenn aber schon die Kritik der Wiener Bevölkerung, die ja angeblich als notorische Raunzerin nie zufrieden ist, nicht ernstgenommen wird, sollte man wenigstens dem Urteil ausländischer Fachleute Glauben schenken.

Auch ein Blick in benachbarte Weltstädte würde sich lohnen, wird aber so lange keine Folgen zeitigen, als Rathausmann und Donauturm die Wiens geistigen Horizont begrenzen.

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