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Wiener Schule in Luzern

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Nach nicht ganz überzeugenden Ansätzen in den Jahren 1970/71 verwirklichte die Leitung der Internationalen Musikfestwochen in Luzern aus Anlaß des 90. Geburtstages von Igor Strawinsky 1972 erstmals systematisch einen Leitgedanken. 1973 wurde im Rahmen der IMF Luzern ein repräsentativer Querschnitt durch das Schaffen mehr oder minder bedeutender Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts geboten. Und heuer versuchte der künstlerische Direktor der IMF, Professor Rudolf Baumgartner, der verdiente Mitbegründer und langjährige Leiter der „Festival Strings Lucerne” und in der Folge auch Direktor des Luzerner Konservatoriums, den großen Schritt, den die Leitung des renommierten Festivals am Vierwaldstättersee 35 Jahre hindurch nicht gewagt hatte.

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Nach nicht ganz überzeugenden Ansätzen in den Jahren 1970/71 verwirklichte die Leitung der Internationalen Musikfestwochen in Luzern aus Anlaß des 90. Geburtstages von Igor Strawinsky 1972 erstmals systematisch einen Leitgedanken. 1973 wurde im Rahmen der IMF Luzern ein repräsentativer Querschnitt durch das Schaffen mehr oder minder bedeutender Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts geboten. Und heuer versuchte der künstlerische Direktor der IMF, Professor Rudolf Baumgartner, der verdiente Mitbegründer und langjährige Leiter der „Festival Strings Lucerne” und in der Folge auch Direktor des Luzerner Konservatoriums, den großen Schritt, den die Leitung des renommierten Festivals am Vierwaldstättersee 35 Jahre hindurch nicht gewagt hatte.

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Unter dem Motto „Ein Musikfest der .Zweiten Wiener Schule1 in Luzern” wurde der Versuch unternommen, anläßlich des 100. Geburtstages von Arnold Schoenberg (am 13. September 1974) mehr als 20 wichtige Werke oder Werkreihen von Schoenberg, Berg, Webern und Krenek in 17 der insgesamt 34 musikalischen Veranstaltungen wohldosiert ins Spiel žu bringen, um das konservative Luzerner Festwochen-Publi- kum nicht abzuschrecken, sondern in musikalisches Neuland einzuführen. Das sorgfältig vorbereitete Experiment darf im großen und ganzen als geglückt betrachtet werden.

Seit der Gründung der IMF 1938 gab es die Eigenproduktion einer Oper im umgebauten und renovierten Stadttheater an” der Reuss. Trotz privater Zuwendungen konnten in dem kleinen, klassizistischen Theater jedoch nur drei Aufführungen einer fast vergessenen Bellini-Oper stattfinden. Trotzdem war die Schweizer Erstaufführung von „I Capuleti ed i Montecchi” ein beachtlicher Erfolg von überregionaler Bedeutung.

Vincenzo Bellini verbuchte 1830 mit der Uraufführung seiner „Romeo und .Tu 1 i a “ - Vertonung im Teatro La Fenice in Venedig seineri dritten Erfolg als Opemkomponist. Nach dem Libretto von Felice Romani schuf Bellini eine komprimierte, von Shakespeare etwas abweichende „Romeo-und-Julia”-Version. Die von der berühmten „melodia Belliniana” charakterisierte, musikalisch reiche und psychologisierende Partitur bietet den beiden Protagonisten reichlich Gelegenheit zu Leidenschaftsausbrüchen, schmerzlichen Klagen und melodiösen Liebesbe- teuerungen. Die als Fidelio bewährte Rose Wagemann setzte ihren metallisch timbrierten Mezzosopran für die Partie des Romeo (bei Bellini eine Hosenrolle) noch effektvoller und geschmeidiger ein als die Giulietta von Horiana Branisteunu ihren in der Höhe brüchigen Sopran. Die drei Nebenrollen waren gut besetzt. Inszenierung und Ausstattung ließen dagegen sehr zu wünschen übrig. Immerhin:’ eine verdienstvolle Ausgrabung…

Zum absoluten Höhepunkt der IMF Luzern 1974 wurde unerwarteterweise die gediegene Aufführung von Franz Schmidts Oratorium ,Das Buch mit sieben Siegeln”, seitens Österreichs erfreulicherweise finanziell gefördert. Für den erkrankten Carl Melles sprang Anton Heiller kurzfristig ein. Er bewältigte die Riesenpartitur und den großen

Apparat ausgesprochen souverän. Das Hauptwerk des außerhalb Österreichs kaum bekannten Spätromantikers Schmidt, dessen 100. Geburtstag heuer gleichfalls zu feiern ist, wurde vor allem dank der imponierenden Leistung des Luzerner Festwochenchors (nach zirka 45 Proben!) und des’Tenors Peter Schreier (als Evangelist Johannes) zum Ereignis der IMF. Das ORF-Symphonieor- chester aus Wien hätte präziser und klangschöner musizieren dürfen …

Es ist natürlich nicht möglich, auf engstem Raum alle aufgeführten Werke von Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern und Ernst Krenek zu erwähnen oder gar zu würdigen; das letzte haben die IMF- Besucher in überzeugender Weise getan. Die beiden obligaten Gastkonzerte der Berliner Philharmoniker zeigten heuer Herbert von Karajan auf neuen Wegen. Doch wurde man bei der Auseinandersetzung des (seif 1948 alljährlich — mit Ausnahme von 1960 — in Luzern auftretenden) Maestrissimo mit frühen Werken der „Zweiten Wiener Schule” nicht gerade glücklich. Karajan verschmolz mit seinem „perfekten Klangapparat” so weitgehend wie nur möglich die sich in Schönbergs spätromantischer symphonischer Dichtung „Pellėas und Mėlisande” schon ankündigende „Emanzipation der Dissonanz” zu schwelgerischem Verweilen im Rahmen der 45-Minuten- Partitur.

Und das hochgezüchtete, „magische” Timbre, der „Karajan-Sound” der Berliner Philharmoniker, eignet sich auch nicht ideal für Bergs „Drei Orchesterstücke” (Opus 6), mit denen der übersensible Musiker “sein Vorausahnen der Katastrophe des 1. Weltkrieges manifestierte. Die erstrebte Kontrastwirkung (von Bruckners „Romantischer” und De- bussys „La Mer”) fiel erst recht zum Nachteil für Karajan aus.

Aufsehen erregte die junge australische Sopranistin Marilyn Richard- son sowohl mit Schönbergs „Pierrot lunaire” wie auch mit der „Lulu- Symphonie”, der letzten Musik, die Alban Berg noch vor seihem frühen Tod zu hören vergönnt war. Sein „dem Andenken eines Engels” (Ma- non Gropius) gewidmetes Violinkonzert fand in Wolfgang Schneiderhan einen einf ühlenden Interpreten. Dietrich Fischer-Dieskau hätte für seinen „Wiener-Schule”-Liederabend viel mehr Besucher verdient. Immerhin: Der Schweizer Durchbruch für Arnold Schönberg und seine epochemachende Schule ist gelungen!

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