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Der Lichtstra

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Nicht selten geschieht es, daß der Knabe Christian eine Weile vor dem Fenster steht und hinüberblickt zu den Häusern und den gelben Villen, die sich am Rande der Stadt versammelt haben. Manchmal, wenn sich dort ein Fensterflügel bewegt, kommt ein Lichtstrahl herüber, und Christian denkt dann, es streife ihn der Blick eines lieben Menschen. Aber es ist halt immer nur Gottes Sonne, die sich drüben in den Fenstern bricht.

Und Christian denkt weiter, wie er seiner armen Mutter ein wenig helfen könnte. Sie leidet sehr, er weiß es, aber sie ist still, sie will es ihm nicht zeigen. Sie tut demütig ihren Dienst, und wenn die Kräfte sie verlassen wollen, nimmt sie ein paar Tropfen aus einer kleinen Medizinflasche. Das war auch gestern so, und heute in der Schule muß Christian plötzlich an das Medizinfläschchen denken. Er versucht, dem Unterricht zu folgen, doch immer klarer und deutlicher sieht er das Medizinfläschchen, und auf einmal, als sei ein Tintenfaß zur Erde gefallen, schrickt er zusammen.

„Mutter“, ruft er und merkt nicht, wie der Lehrer auf ihn zukommt, die Schüler sich zu ihm umdrehen. Er stürzt aus der Klasse und läuft, wie ihn die Beine nie getragen haben, in das Viertel, wo die Armut zu Hause ist. Hier findet er die Mutter, hingestreckt auf dem 3ett, das Gesicht weiß und erloschen, als sei alles Leben von ihr fortgegangen. „Mutter“, ruft er und rüttelt sie, „Mutter, Mutter!“ Und er küßt sie, weint: So geh doch nicht fort, Mutter. Du kannst mich doch nicht

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