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Digital In Arbeit

Die letzten PkotograpE ien

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Die kleine Oellampe schwankt leise hin und her. Eine halbe Konservendose, mit Draht am Querbalken aufgehängt, halb voll mit Kerosin, ein Stückchen Schnur als Docht. Von der flackernden, gelblichen Flamme zieht sich kaum merklich, ununterbrochen, ein dünner, dunkler Faden in die Höhe, verschwindet in der Finsternis, verteilt sich und fällt als schwarzer, öliger Schleier wieder auf die Männer herunter, denen die Funzel hier im finstersten Eck des großen Saales 18 Stunden täglich das einzige Licht bietet.

Drei Stock übereinander ziehen sich die Pritschen durch den Raum, nur ein schmaler Gang an den Wänden, ein etwas breiterer in der Mitte, 45 cm Pritschenbreite je Mann — der Lebensraum für die 300, die hier hausen müssen. Haben nicht die Deutschen „Lebensraum“ für ihr Volk im Osten gefordert? Nun wird ihnen demonstriert, wie wenig Raum den Menschen im Osten genügt…

Aus dem Gang zwischen den Pritschen dringen Gesprächsfetzen herauf. Der Gerichtsassessor aus Hamburg hat seinen Juristenzirkel um sich versammelt und doziert über Ehescheidungsrecht. Ein knappes Dutzend zerlumpte Gestalten hören ihm zu und diskutieren über Scheidungsgründe und Auflösung der ehelichen Gemeinschaft. Hier oben im dritten Stock ist nur die schroffe Stimme des Hamburgers zu unterscheiden. Er zitiert "Paragraphen und kommentiert Gesetzesstellen, als stehe er im Talar vor seiner Klientel und nicht in einer schmutzigen Steppjacke vor seinen Kameraden im Offizierslager 95, ostwärts von Woronesh.

Auch der kleine Pastor aus Erfurt sitzt inmitten seiner Getreuen. Mit untergeschlagenen oder herabhängenden Beinen hocken sie auf der obersten Pritsche und hören ihm wortlos zu, der von Plato und Aristoteles, von Christus und Luther, von Nietzsche und Schopenhauer erzählt. Philosophie, Religion — höhere Werte als das lauernde Warten von einer Mahlzeit zur nächsten. Ist es eine echte Hinwendung zu ihnen, die bei so vielen lange verschüttet waren, oder nur eine Flucht vor dem eigenen Ich, vor dem ständig hungernden Magen, vor der Verzweiflung?

Bühelers Blick bleibt wieder an der Lampe hängen, die schräg über ihm schaukelt. Es muß irgendwo ein Luftzug gehen, von den vermauerten Fensterlöchern auf dieser Seite zu den holzverschalten auf der andern. Büheler bewundert, beneidet die andern, die noch die Kraft aufbringen können, sich mit Juristerei oder Philosophie zu beschäftigen. Vor Monaten war auch er eifriger Teilnehmer an den Sprachkursen, den Zirkeln, den Vorträgen, wenn sie nicht zur Arbeit hinaus auf den Kolchos oder in den Wald mußten. Aber jetzt? Nach Wochen dünner Kohlsuppe, mit ein paar verfaulten, gefrorenen Kartoffeln,’ dem klitschig nassen Brot? Unabänderlich landet jeder Gedankengang beim Essen, wo er auch begonnen haben mochte, und jedes Gespräch bei Kochrezepten. Ist das der Mensch, das Ebenbild Gottes, von dem Pastor Gegenbauer dort spricht? Sollte man mit diesem Elendsdasein nicht lieber endgültig Schluß machen? Warum klammern sich denn alle so an dieses Vegetieren, bei dem nicht abzusehen ist, wann es sich ändern wird, ja ob sie es überhaupt erleben werden? Haben es da nicht die vier besser, Horvath, Langer und die beiden Ungarn, die sie erst gestern wieder hinausgetragen haben vor das Lager, um sie unter zehn Zentimeter Erde und einem Meter Schnee einzuscharren? Wie viele werden ihnen noch folgen und wie viele werden dem folgen, der als erster von sich aus Schluß macht?

Büheler dreht sich auf die Seite, um nicht immer wieder das Wort „Gott“ zu hören, das aus dem Vortrag des Pastors herübertönt. Irgendwie paßt das nicht mit seinen Gedanken zusammen, spürt er. Aber jetzt liegt er mit dem Hüftknochen auf etwas, was ihm im Weg ist, ach ja, die Brieftasche, sein letzter Schatz!

Dankbar für die Ablenkung zieht er sie aus der Rocktasche. Durch wie viele Filzungen hat er sie schon retten müssen, das Päckchen Briefe und die paar Photographien, die letzten, die ihm’übrig geblieben sind? Sie sind schon ganz abgegriffen, zerknickt vom Draufliegen, aber sorgfältig eingeschlagen in ein braunes, steifes Packpapier. Wie oft hat er sie in diesen Monaten schon in der Hand gehabt! Jeden Schatten auf ihnen kennt er auswendig, jeden Strich könnte er nachzeichnen, die heimatlichen Berge, die Winkel der alten Kleinstadt, die Gesichter der Eltern, die Züge des Mädchens. Es stört ihn nicht, daß sich die Konturen im flackernden Licht der Oellampe verwischen. Er saugt sie in sich hinein wie ein Verdurstender das Wasser. Glückliche Tage stehen wieder auf. Wie lange ist es her? Erst eineinhalb Jahre? Oder schon eineinhalb Jahre? Dauert dieses Elend nicht schon endlos? Oder war es nicht erst vorgestern, daß er sich von ihr verabschiedet hat, die ihm nun hier aus der Finsternis entgegenlächelt?

Der Gerichtsassessor hat seine Lektion beendet. Pastor Gegenbauer hat eine Pause gemacht, seine Getreuen kommen wieder zurück. Büheler merkt nichts von dem, was um ihn vorgeht. Er hält die Photographien in der Hand, aber sein Blick geht an ihnen vorbei, in die Finsternis und kommt schließlich doch zu denen, die die Bilder zeigen. Und jetzt weiß er plötzlich: dieses Elend wird ein Ende haben! Er fühlt: Ich darf nicht aufgeben! Ich muß durchhalten! Sie warten auf mich, sie rechnen auf mich! Das Leben fängt doch erst an, wenn wir erst wieder zu Hause sein werden!

Sonderbar, der Hunger bohrt nicht weniger wie vorhin, aber er hat auf ihn vergessen. Er hört nicht hin, wie neben ihm zwei Kameraden die Spezialitäten schwedischer Küche mit allen Farben ihrer von Hungerpsychosen gelenkten Phantasie schildern. Er hört auch nicht zum Pastor hinüber, der wieder angefangen hat zu sprechen, er ist mit seinen Gedanken noch zu Hause. Und doch tönt ihm einmal aus dem halblauten Gemurmel das Wort „Gnade“ herüber.

Gnade? denkt .er, was ist Gnade? Er hat nie daran geglaubt, aber jetzt? Ist das jetzt Gnade gewesen? Denn nun fühlt er ganz deutlich der Tiefpunkt ist überwunden!

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