6723837-1965_23_03.jpg

Paul Lendvai: Ich bin ein „Neuösterreicher“

19451960198020002020

Ein persönliche Bericht über Österreich als neue Heimat.

19451960198020002020

Ein persönliche Bericht über Österreich als neue Heimat.

Werbung
Werbung
Werbung

Als ich vor nun mehr als acht Jahren auf dem Schwechater Flughafen eintraf, wußte ich noch nicht, daß dieses in jenen Tagen für die Ungarn so glitzernd und so reich erscheinende Land für mich eine zweite Heimat werden sollte. Eine Heimat, die ihr echtes Wesen nur für jene, die sie lieben, zu eröffnen bereit ist. Diese Liebe muß aber, so fühle ich, eine kritische und selbstkritische sein. Vor einer Woche hatte mich ein österreichischer Industrieller scherzhaft gefragt: „Wo möchten Sie denn am liebsten leben?“ Baronin N., die Gattin eines österreichischen Diplomaten, sagte vorher: „In Frankreich“, und der Fragende selbst stimmte für Italien. Und ich — mit meinem ach so starken Akzent und turbulenter Vergangenheit — errötete und antwortete stockend: „Österreich.“ Vielleicht im Unterbewußtsein hatte ich bereits 1959 so gefühlt, als ein Freund mich auf die Vorrangliste zur Einwanderung in die USA setzte und ich meine Vergangenheit bewußt so schonungslos schwarz färbte, daß der liebenswürdige Vizekonsul sichtlich verwirrt wurde und glücklicherweise vermutlich eine negative Meinung an seinen Dienstvorgesetzten weiterleiten mußte. Vielleicht liebte ich Österreich auch dann, als ich mit vielschichtigen Ausreden und Vorwänden Berufungen 1960 bis 1961 nach Washington, London und Hamburg nicht folgte und in Wien geblieben bin.

In den letzten zwei Monaten hat der Verfasser drei Nachbarländer — die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Ungarn — besucht. Immer wieder mußte er dem in diesem kleinen und von seinem natürlichen Hinterland auch heute noch in vieler Hinsicht abgeschnittenen Österreich vollbrachten Wirtschaftswunder Tribut zollen. Jene selbstherrlichen, tief provinziellen und apokalyptische Visionen an die Wand malenden Journalisten hierzulande, die für die Koalition nur Spott und Verachtung (kein Wort des Tadels aber für die Bazillenträger neonazistischen Gedankengutes !) übrighaben, sollten einmal nicht nur die Strecke Wien— Bonn, sondern auch jene nach Prag, Belgrad und Budapest mit offenen Augen befahren. Dann könnten sie die Früchte der seit Jahren bewußt und nicht selten mit diabolischem Geschick verschmähten Zusammenarbeit der beiden großen Parteien richtig schätzen lernen. Und wenn sie diesen Vergleich mit den Donauländern mit abschätziger Handbewegung erledigen wollen, dann sage ich mit ebensolcher Entschiedenheit, daß, mit welchem Maßstab immer und trotz aller Entartungen, dieses „Proporzsystem“ dem Land sozialen Frieden und eine der eindrucksvollsten Wachstumsraten der Welt (ein fast überdimensioniertes Rentenwesen und den Glanz eines bescheidenen Wohlstandes) gegeben hat.

Österreicher — aus Überzeugung

Wie wird man zu einem Neuösterreicher, oder — anders ausgedrückt — warum fühlt sich ein „Zugereister“, ein „hergeflogener“ Flüchtling als Österreicher? Warum raunzt und schimpft man unentwegt und verteidigt zugleich alles — von der Bedienung bis zu den Theatern — so leidenschaftlich, manchmal vielleicht zu „engagiert“, gegenüber ausländischen Besuchern oder Diplomaten? Kurz und gut, wie wird aus einem Mann, der Ungarn erst mit 27 Jahren verlassen hat und mit einer Engländerin verheiratet ist, nicht nur der Besitzer eines österreichischen Reisepasses, sondern auch ein Österreicher der Überzeugung nach?

Der Verfasser des folgenden Aufsatzes ist Wiener Korrespondent der „Financial Times“ (London) und der „Tat“ (Bern).

Lesen Sie hier den zweiten Teil des Essays "Ich bin ein ,Neuösterreicher'", der eine Woche später in der FURCHE erschien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung