Schlägt die Stunde der Laien?

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Das Bild von der "winterlichen Kirche" ist Wirklichkeit. Doch gerade jetzt ist Aufbruch ausder Mutlosigkeit und aus der Lähmung der Stunde angesagt.

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Das Bild von der "winterlichen Kirche" ist Wirklichkeit. Doch gerade jetzt ist Aufbruch ausder Mutlosigkeit und aus der Lähmung der Stunde angesagt.

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Es ist beinahe 80 Jahre her, als Romano Guardini die denkwürdige Feststellung machte: "Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen". Er sprach davon, dass das religiöse Leben sich "aus der tötenden Einkerkerung in sich selbst" befreit und "den ganzen Bereich der Wirklichkeit in sich herein" zieht. Er erwähnte die "kirchliche Bewegung", die zu einer Erneuerung des Gemeindebewusstseins führe, das den einzelnen Menschen mit der Kirche leben lasse, und der sich nun für sie mitverantwortlich wisse und für sie arbeite. Die kirchlichen Lebensäußerungen müssten aber so sein, dass der einzelne mitleben und mitarbeiten könne.

Die visionären Worte Guardinis sind oft in Erinnerung gerufen worden. Wenn Sie nun beim heutigen Anlass auf 50 Jahre Ihres eindrucksvollen Wirkens in so vielen Sparten des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens zurückschauen, dann scheinen sich die Worte Guardinis mehr als nur bestätigt zu haben. Wenn dem so ist, dann wundere ich mich, warum die Frage, ob die Stunde der Laien schlägt, mit einem Fragezeichen versehen wird. Hat sich Guardini getäuscht? Denn wir spüren im Moment wenig von einem Aufbruch und vom Erwachen der Kirche in den Seelen.

Die kirchlichen Austrittszahlen sind nur ein Symptom eines tiefen Umbruchs im Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft und im Verhältnis der Kirche zur eigenen Tradition und ihrer Erbschaft. Diese Diagnose ist allerdings nicht mehr ganz neu. Schon vor Jahrzehnten verwendeten Karl Rahner und Ida Friederike Görres das Bild von der "winterlichen Kirche" als Bezeichnung für diese Situation. Inzwischen ist es für manche geradezu frostig geworden.

Bei unserer Rechenschaft, ob die Stunde der Laien schlägt, müssen wir in einem christlichen Mut zum Realismus um das Bedrängende der gegenwärtigen Stunde wissen und dürfen ihr nicht ausweichen. Aus einer christlichen Hoffnung heraus dürfen wir aber beherzt Hand anlegen, denn auch im Winter wächst das Brot (Ida Friederike Görres), und auch im Winter soll es den Menschen ausgeteilt werden.

"Rätekatholizismus" oder "Verbandskatholizismus?

Nachdem der im 19. Jahrhundert entstandene Vereins- und Verbandskatholizismus in die Krise geriet, schienen in unseren Bereichen die "Bewegungen" und vor allem die Räte den Vereinskatholizismus und die Katholische Aktion beerben zu wollen. Sind dadurch der Vereinskatholizismus und die Katholische Aktion enterbt?

Nach dem Konzil entfachte die damalige Kirchenbegeisterung geradezu eine Räte-Euphorie. Sie schossen nur so aus dem kirchlichen Boden: Pastoralräte, Priesterräte, Pfarrgemeinderäte ... Nach dem Abbröckeln von Verbandskatholizismus und Volkskirche glaubte man, die Räte würden nun deren Rolle übernehmen und das neue Salz der Kirche sein und die fällige Kirchenreform in die Tat umsetzen.

"Sonden" und "Antennen" in der Welt für pünktliches Christsein In der Spannung zwischen Gesellschaft und Kirche sowie zwischen den Berufungen der einzelnen Christen und Christinnen einerseits und den in der Welt zudiktierten "Dienstanweisungen Gottes" andererseits sind nicht zuerst die Räte, Kommissionen oder die Gesamtheit einer Pfarre, einer Diözese oder einer Bischofskonferenz die primären Brücken und Handlungsorte, sondern Arbeitsgruppen, Vereine, Verbände, kirchliche Hilfswerke ...

Von daher sind sie Sonden oder Sensorien mit gewisser organisatorischer Selbständigkeit neben den territorialen Strukturebenen Pfarre, Dekanat, Diözese - auch wenn sie im einzelnen durchaus miteinander vernetzt sein wollen - also Sonden ins gesellschaftliche, kommunale, politische und individuelle Leben hinein. Sie sind Instrumente und Wege, mit Hilfe derer die Kirche ihrer politischen, sozialen, kulturellen, therapeutischen, ethischen und religiösen Diakonie heutzutage konkret nachkommen kann.

Schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte des sozial engagierten Verbandskatholizismus belegt auf eindrückliche Weise, dass es nebst Kongregationen und Orden vor allem Verbände, Vereine und Projekte - von Hilfswerken bis hin zum Kolpingverein - gewesen sind, die ein feines Gespür für gesellschaftliche Aufgabenstellungen und Nöte entwickelt haben - auch als kritisch-prophetische Sensorien in der Kirche gegenüber der Hierarchie.

Durch diese Sonden und Antennen kann die Kirche über ihren institutionellen Binnenraum hinauswachsen. Ohne diese Instrumente verlören die Pfarren und die Diözesen ihr Leitsystem für das hier und jetzt Notwendige und damit wichtige Chancen und Garantien, die Nöte, Sorgen und Fragen auf Tod und Leben wahrzunehmen und mit den Menschen guten Willens Lösungen anzustreben. Sind demnach die kirchlichen Verbände und einzelne Bewegungen, die sozial engagierten Gruppen und Basisprojekte, die Realität und Religiosität verbinden wollen, nicht so etwas wie ein prophetisches Frühwarnsystem für eine Kirche, die häufig mit ihren internen Problemen die Menschen zu verscheuchen droht?

Territoriale Vernetzung der Vielfalt der "Sonden" und "Antennen" Im Unterschied zu diesen Sensorien liegt die Funktion der Amtsträger und Räte eher darin, auf den verschiedenen territorialen Ebenen die Vielfalt und die unterschiedlichen Verbände, Projekte, Stabstellen und Kommissionen sowie das seelsorgliche Wirken zu vernetzen und zu einer fruchtbaren Synergie zu führen.

Ihr Bezugsfeld ist in der Regel ein kirchlich-territoriales Gebiet. Im Vergleich zu ihnen sind die genannten Sonden und Antennen viel dynamischer und meist unmittelbar pragmatisch nahe an einer bestimmten Problemfront. Die Räte und kirchlichen Amtsträger müssen die Vielfalt und das Ganze im Auge behalten und sind so eher auf Ausgleich und Koordination bedacht. Ihre Gefahr kann darin bestehen, sich selbst zu genügen und sich auf binnenkirchliche Sorgen zurückzuziehen und damit genau die öde Langeweile zu produzieren, die sie eigentlich verhindern sollten. Durch die Antennen und Sensorien verstärkt sich indessen Lebensnähe. Dadurch wird verhindert, dass die pastoralen Gremien ins gesellschaftliche Abseits geraten. Die Gefahr der Sensorien allerdings kann darin liegen, dass sie sich bloß auf ein Managen von Aufgaben und Sachbereichen einlassen und dadurch die religiösen Ressourcen und kirchlichen Solidaritätsquellen aufs Spiel setzen, die sie doch langfristig tragen und ermutigen sollen.

So sind beide aufeinander angewiesen und gerade in diesem Zueinander verstärken und dynamisieren sie sich gegenseitig.

Wenn sich die innerkirchlichen Naherwartungen verzögern 1. Praktisches Christsein wagen Aber selbst dann, wenn sich die innerkirchlichen Naherwartungen vieler "Laien" und Amtsträger verzögern, so gilt die Sendung zum christlichen Zeugnis in der heutigen Zeit kompromisslos und ohne Abstriche. Es geht um das Grundanliegen der christlich-prophetischen Dimension von Kirche, nämlich um eine Hoffnungspraxis im Leben des Einzelnen und im gesellschaftlichen Miteinander, um Christsein als Lebensgewinn.

Die Herausforderungen des Lebens und die Nöte und Probleme der Welt einerseits und eine leidenschaftliche Verankerung in der uns in Jesus Christus geschenkten Hoffnung andererseits definieren Christsein und letztlich das Wirken der Kirche. Erst wenn diese christliche Berufung und geerdete Sendung - nach Maßgabe des Vermögens und der Kraft unserer Herzen - eingelöst werden, aber auch nur erst dann, hat die Frage nach dem "Laien" als Frage nach der Kirche ihre Identität gefunden. In diesem Sinn ist von der "Stunde der Laien" zu sprechen.

Diese christliche Identität, die gerade die Spannung zwischen der Gottesfrage und Menschenfrage (Mystik und Politik) auszuhalten versucht, wird aber durch innerkirchliche Rückzüge gefährdet, die sich nicht als Modelle für Aufbrüche von Christen empfehlen.

In Zeiten, in denen scheinbar in Gesellschaft und Kirche die Probleme unlösbar sich auftürmen und bisherige Solidaritäts-Strukturen und Werte in Krise sind, ist es verständlich, dass Menschen in Angst geraten (Angst ist Feind Nr. 1 der Menschheit, auch in der Kirche). Sie suchen schützende Heimat und entlastende Absicherung. Innerkirchlich sind solche Tendenzen beim starren Traditionalismus zu sichten, der das Handeln Gottes an historisch gewachsenen Formen festbinden will.

Ähnlich liegt es bei doktrinären Verhärtungen, die Sicherheit nur durch wortwörtliche Treue gegenüber Bibel und kirchlicher Lehre zu erhalten glauben: das ist die Gefahr des Fundamentalismus, der keine Visionen für Aufbrüche und solidarische Praxis entwickelt, sondern nur rigoros reproduziert und Angst abreagieren will. Die autoritäre Variante liegt hier ganz nahe: Das kirchliche Amt soll diese Sicherheiten garantieren und dafür geradestehen, was gilt.

Eine Art Heimatsuche erfolgt in der Form des Rückzugs in das Erleben von Gemeinschaft, in Intensiv-Erfahrungen, in religiösen "Events", in der Nestsuche in kirchlichen Nischen mit ausgeprägten spiritualistischen Ausrichtungen und in den vor der rauen Luft der Wirklichkeit schonenden Unterständen ("Kuschelgruppen") - oft geschart um dominante Männer oder Frauen ("Gurus").

Christsein findet demgegenüber seine Mitte darin, die geschenkte Hoffnung in konkreten Hoffnungsschritten aus- und mitzuteilen, also die Gottesfrage in die praktischen "Menschenfragen" zu mischen und in die Menschenfragen und -nöte die Frage nach dem Gott Jesu, der Quelle unserer Hoffnung.

Die größte Sorge gilt somit der Frage, ob und wie "Laien" selber Christsein glaubwürdig leben und gestalten. Dass Kirche zu einem Hoffnungszeichen unter den Menschen und in der Welt wird, ist zur eigenen Aufgabe geworden, die nicht mehr billig an die offizielle Kirche oder an ihre Amtsträger zu delegieren ist. Mit solchen Formen der Delegation und Stellvertretungssuche versetzten sich die Laien selber in unmündige Kindschaft. Demgegenüber sind die Christen gerufen, selber Plädoyer für eine Kirche zu werden, in der Gott zu den Menschen und zur Welt will, und die sich als Weggenossenschaft und als Gemeinschaft im Glauben versteht.

2. Langer Atem und Treue in einer Zeit lähmender Kirchenverdrossenheit Aber die kirchliche Lage in unseren Ländern ist sehr zwiespältig; die Stimmung - auch beim kirchlichen Personal - ist über weite Strecken gedrückt und missmutig. Die Kirche verfügt zwar über eine große "passive" Mitgliedschaft. Aber die Zeichen deuten klar darauf hin, dass die Kirche gesamtgesellschaftlich in eine Diasporasituation gerät; und gegen den Zeitgeist hat es der Heilige Geist und gegen die konsumistische und mediale Verdummung die Hoffnung schwer.

So fragen manche bekümmert, wo die Propheten und Prophetinnen bleiben, die kritisch protestierend die Probleme beim Namen nennen, die aber auch aus einer religiösen Tiefe und religiösen Glut heraus prophetische Kritik und wirklichkeitsbewusste Hoffnung verbinden und praktischen Christenmut stärken oder wecken. Sind wir nicht in Gefahr - auch an manchen Orten der Kirche - einer Ethik ohne Hoffnung zu erliegen, die in moralisierenden Appellen oder Sozialkitsch verkommt, den Humor verliert und keine Freude kennt und das Trostlosigkeitsgefühl eher verstärkt?

Aber: Sehnsucht nach Hoffnung ist reich vorhanden, wenn auch eher indirekt wahrgenommen oder verschlüsselt geäußert. Allerdings wäre es eine trügerische Hoffnung, wenn sie nur dann "leben" könnte, wenn Realität unterschlagen und ausgeblendet würde.

Hängt die derzeitige Kirchenstimmung vielleicht auch damit zusammen, dass viele unserer vom Konzil genährten Kirchenträume und subjektiven kirchlichen Naherwartungen sich verzögern? Wir haben auf kirchliche und pastorale Nahziele hin gelebt und die schnelle Reife unserer (gutgemeinten) Kirchensaat und die eilige Erfüllung unserer berechtigten Kirchenhoffnungen erwartet.

Wenn sich solche innerkirchlichen Nah-Erwartungen nun verzögern, dann werden unsere Hoffnung und unsere Bilder von einer Kirchenreform, die auf Nahziele und ihren schnellen Erfolg hin orientiert sind, einer argen Geduldsprobe ausgesetzt. Wenn sich die Zeit so hinzieht, genügen die Techniken und Vorstellungen von Kurzstreckenläufern nicht mehr. Wir haben uns, wenn wir uns nicht "fundamentalistisch" oder "zynisch" zurückziehen, auf einen Langstreckenlauf einzurichten, einen Weg, der zwar um seine Optionen in der Spannung zwischen Vision und Realität weiß, der sich aber auf die meist vielen kleinen Schritte zu diesen Optionen einlässt.

Es scheint unerlässlich, aus den laikalen und klerikalen Minderwertigkeitsgefühlen und Überheblichkeiten, aus lähmenden Stimmungen und Mutlosigkeiten aufzubrechen. Nur über diesen konkreten Weg kann das wachsen, sich ankündigen und in vielen Ansätzen lautlos werden, wofür letztlich (fast) alle plädieren: nämlich eine durch uns und mit uns und aber auch für uns lebendige und menschenfreundliche Kirche, die die Gottesfrage und die Menschenfrage leidenschaftlich wagt und als die zwei Seiten der einen Medaille versteht.

Der Autor ist Professor für Pastoraltheologie in Fribourg/CH. Gekürzter und redigierter Auszug aus dem Festvortrag beim 50-Jahrjubiläum der Katholischen Aktion Österreich am 26. Mai in Wien.

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