Wann ist ein Mensch wirklich tot?

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Organe zu transplantieren, gehört heute zum Alltag derSpitäler. Wird es dadurch auchzu einer die Menschenwürde des Spenders gefährdenden Routine? Der im Folgenden (mit veränderten Namen) geschilderte Fall wirft ernste Fragen auf.

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Organe zu transplantieren, gehört heute zum Alltag derSpitäler. Wird es dadurch auchzu einer die Menschenwürde des Spenders gefährdenden Routine? Der im Folgenden (mit veränderten Namen) geschilderte Fall wirft ernste Fragen auf.

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Es ist der erste Sonntagmorgen in diesem Jahr, etwa halb neun. Das Telefon läutet. Als ich abhebe, meldet sich Fritz, unser Nachbar. "Ist Martha bei euch?" fragt er mit unüberhörbarer Besorgnis in der Stimme. "Nein," antworte ich - ebenfalls sofort von Beunruhigung erfüllt. "Dann muss ich sie im Hof suchen gehen", sagt er und legt auf. Ich schiebe meine Beunruhigung vorerst zur Seite.

Martha, Fritz' Frau, ist seit einigen Wochen wieder in den dunklen Sog der Depression geraten. Trotz guter Betreuung hat sie das Schlupfloch gefunden, ist entkommen und hat zum zweiten Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Und Fritz, der Landwirt, unser Nachbar, findet sie kurz nach dem Telefonat mit mir. Der Puls ist noch da, Beatmung - Notarzt, Rettung, Polizei und dann, zuletzt, das große, mit allen technischen Raffinessen ausgestattete Rettungsauto, das Martha auf die Intensivstation des städtischen Spitals bringt ...

Eine Stunde später sitze ich mit Fritz und seinem erwachsenen Sohn im Auto, ebenfalls auf dem Weg ins Spital. Tränen der Verzweiflung: "Warum haben wir nicht besser aufgepasst? Habe ich sie noch rechtzeitig gefunden?"

Der Arzt vor Ort wirkt skeptisch -, aber wenn im Moment des Auffindens der Puls noch spürbar war, gibt es vielleicht doch eine Chance. Nur das Gehirn. Das Problem ist - ob es noch genug Sauerstoff bekommen hat?

In aller Verzweiflung halten wir ein Fünkchen Hoffnung wach. Wir betreten die Intensivstation. Es ist gerade Besuchszeit. Hygienevorkehrungen. Martha liegt gleich im ersten Zimmer ganz vorne. "Einen Moment noch, bitte, Sie können gleich hereinkommen", sagt eine Krankenschwester zu uns.

Dann dürfen wir ans Bett treten. Fritz beugt sich weinend über seine Frau: "Martha, komm doch wieder! Ich will mit dir zusammen alt werden!" Er küsst und streichelt sie - und Martha öffnet die Augen, reagiert mit einem Zucken des Kopfes. Nimmt sie uns wahr? Spürt sie, dass wir da sind? Spürt sie unsere Berührungen? Die Reaktionen ermutigen uns irgendwie. Währenddessen gibt das Beatmungsgerät, an das Martha angeschlossen ist, ständig die aktuellen Daten ihres Zustands bekannt - Puls, Blutdruck, Temperatur ...

Wir möchten mit dem zuständigen Arzt sprechen. Dr. Bucher hat offenbar wenig Zeit. Auf dem Korridor - rings um uns die Besucher anderer Patienten - teilt er uns im Stehen ganz knapp mit, dass es schlecht um Martha stehe. Eine minimale Chance - vielleicht. Fritz fängt zu weinen an. Dr. Bucher: "Sie können sich aber überlegen, ob eine Organspende in Frage kommt." Das "Gespräch" hat höchstens zwei Minuten gedauert.

Als wir noch einmal ans Krankenbett treten, um uns von Martha zu verabschieden, machen sich dort Arzt und Pflegepersonal zu schaffen. Ich habe das dumpfe Gefühl wir stören - überhaupt und grundsätzlich. Gehört Martha schon den Ärzten?

Die Ärzte sind nichtzu sprechen In den folgenden Tagen bleibt Marthas Zustand konstant. Die Untersuchungen ergeben, dass ihr Gehirn zwar funktionsfähig ist, jedoch nicht wirklich normal arbeitet. Ihre Gehirntätigkeit ist deutlich reduziert, konstant reduziert. Ihre Angehörigen kommen täglich zu Besuch.

Dann, am Donnerstag, schlägt Fritz nach einem Telefonat mit dem anderen behandelnden Arzt, Dr. Grabherr, Alarm: Martha könne jetzt jeden Moment sterben. Wir fahren eiligst ins Spital, um Abschied zu nehmen. Doch dort stellen wir fest, dass eigentlich alles beim Alten ist. Martha sehe sogar wesentlich besser aus als am Abend vorher, meint Fritz. Wird Martha sterben oder nicht? Fast die ganze Familie ist gekommen. Tags zuvor hat der Krankenhausseelsorger die Krankensalbung gespendet ...

Da die behandelnden Ärzte nicht zu sprechen sind, bedränge ich einen Krankenpfleger, uns Auskunft zu geben. Nachdem er beteuert hat, dass er als Pflegeperson keine medizinischen Auskünfte geben dürfe, erfahren wir immerhin, dass Marthas Zustand seit der Einlieferung praktisch gleich geblieben ist. Auch die geringe Gehirntätigkeit bestehe noch.

Und was sind die Aussichten, wenn unsere winzige Hoffnung wahr wird? Wahrscheinlich wird Martha pflegebedürftig bleiben.

Freitag. Am Nachmittag ruft meine Frau im Spital an. Sie fragt, ob sie Martha auch außerhalb der offiziellen Besuchszeit besuchen dürfe, weil es ihr zeitlich nicht anders möglich sei. Dr. Grabherr ist am anderen Ende der Leitung: Martha sei vor einer halben Stunde im Beisein mehrerer Angehöriger verstorben!

Eine halbe Stunde später macht sich meine Frau auf den Weg zu Fritz, um zu kondolieren und ihn zu trösten. Doch Fritz weiß noch nichts vom Tod seiner Frau. Als dann ich eintrete, warten alle auf den Anruf des Spitals. Ist Martha nun gestorben oder nicht? Ich nehme die Sache in die Hand und rufe selbstständig an - nicht auszuhalten diese Unklarheit.

Eine Schwester teilt mir mit, dass sie fremden Personen keine Auskünfte geben dürfe. Fritz ruft an. Dieselbe Schwester bedauert - aber der zuständige Arzt sei nicht auf der Station; wir sollen es in einer Viertelstunde wieder versuchen.

Zwischendurch rufen wir die Angehörigen an, die laut Dr. Grabherr beim Verscheiden von Martha dabei gewesen sein sollen. Sie geben an, von Marthas Tod nichts bemerkt zu haben. Im Gegenteil - sie sei weiterhin an das Beatmungsgerät angeschlossen gewesen. Allerdings hätten sie das Zimmer zwischenzeitlich verlassen müssen, weil Martha "aufgeblasen" worden wäre. Ich erinnere mich plötzlich wieder an die Frage von Dr. Bucher am Sonntag: die Organe ...

Fritz telefoniert mit einem dritten Arzt, Dr. Lupin. Nachdem er auflegt, sagt er: "Eigentlich weiß ich jetzt noch immer nicht, ob Martha gestorben ist oder nicht!" Das ist der Moment, in dem ich zornig werde. Während immer mehr Verwandte eintreffen, um Fritz beizustehen, gehe ich nach Hause, um zu telefonieren.

Wieder dieselbe Schwester: Sie dürfe einfach keine Auskunft geben. "Aber Sie müssen doch sagen können, ob die Patientin lebt oder tot ist!" Sie kann es nicht. Unter Androhung einer Anzeige bei der Landessanitätsdirektion holt sie Dr. Lupin, der nur vertretungsweise Auskunft gibt, ans Telefon. Ich sage: "Dr. Lupin, ich glaube, ich weiß, was jetzt läuft: Es geht um Marthas Organe!"

Rein juristisch war alles korrekt Er erklärt mir, dass tatsächlich eine Kommission darüber befinde, welche Organe von Martha für eine Organspende in Frage kämen. "Warum spricht man mit den Angehörigen nicht offen darüber? Die müssen doch ihre Zustimmung geben ..."

Als ich mit Dr. Lupin den Verlauf des Nachmittags durchgehe, erklärt er mir, dass es juristisch zwar völlig legitim sei, Organe ohne Rücksprache mit den Angehörigen zu entnehmen; jedoch konzediert er, dass aus der Perspektive der Ethik das Verhalten der zuständigen Ärzte den Angehörigen gegenüber nicht einwandfrei sei. Ich kündige ein "Nachspiel" an.

Eine Stunde später ruft mich Dr. Bucher zuhause an. Sein erster Satz: "Ich habe alles abgeblasen. Das Flugzeug, das von Hannover aus unterwegs war, um das Herz abzuholen, musste auf halbem Wege wieder umdrehen." Er beschuldigt mich, dafür verantwortlich zu sein, dass fünf(!) Menschen nun keine Organspende erhalten. Als ich ihm zu erklären versuche, dass es mir nicht um die Frage "Organspende ja oder nein" geht, sondern um die Art, wie mit uns, wie mit den Angehörigen umgegangen wird, scheint er nicht zu verstehen.

Meine letzte Frage in dem heißen Gespräch lautet: "Und was ist jetzt mit der Patientin?" Antwort: "Wir haben die Maschine abgeschaltet." Eigentlich wissen wir noch immer nicht, ob und wann Martha "gestorben" ist.

Wer entscheidet, wann gestorben wird?

Ich vermute, dass diese Geschichte mehr oder weniger zum Alltag österreichischer Spitäler gehört. Ungewöhnlich ist vielleicht, dass sich jemand darüber so entsetzt wie ich.

Im Nachdenken über das Erlebte scheinen mir einige kritische Fragen angebracht: * Sind Ärzte - und gerade die, die auf Stationen arbeiten, an denen es tagtäglich um Leben und Tod geht - ausreichend zu einer humanen Gesprächsführung mit Angehörigen und Patienten befähigt? Nehmen sie sich - und haben sie von den Arbeitsbedingungen her - die Zeit dazu?

* Gibt es in Situationen wie der geschilderten überhaupt noch das Phänomen Tod, gar das eines persönlichen Todes? Wann ist Martha gestorben? Und wer entscheidet, wann gestorben wird? Dann, wenn die Kompatibilitätstests für die Organspende abgeschlossen sind? Wussten Dr. Bucher und Dr. Grabherr den groben Zeitraum etwa bereits am Sonntag?

* Wem gilt der Dienst des Arztes? Dem Patienten vor Ort oder - wie in unserem Fall - den fünf Organempfängern? Oder dem eigenen Ehrgeiz, Lebensretter von vielen zu sein?

* Sind die Ärzte durch Aus- und Weiterbildung ethisch hinreichend für das sensibilisiert, was sie zu verantworten haben? Und vor allem: Sind sie charakterlich stabil genug, Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren? Wer legt diese Grenzen fest?

* Und: Wie verarbeiten die Mitarbeiter den dauernden Aufenthalt in der Grauzone zwischen Leben und Tod?

Ich jedenfalls halte die in Österreich erlaubte Praxis für unverantwortlich.

Der Autor ist in der Aus- und Fortbildung des Diakoniewerkes tätig.

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