SOS Solidarität

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Der Patient zahlt dreifach: Kassenbeiträge, Selbstbehalte und Steuern. Und die Firmen drücken sich.

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Der Patient zahlt dreifach: Kassenbeiträge, Selbstbehalte und Steuern. Und die Firmen drücken sich.

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Das österreichische Gesundheitssystem ist das Prunkstück des Sozialstaates. Mehr als 99 Prozent der Bevölkerung haben Zutritt zu allen Gesundheitseinrichtungen. Kostenpunkt: 8,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so der Stand 1999. Damit liegen wir im internationalen Vergleich gut. Deutschland gibt für sein Gesundheitssystem 10,6 Prozent aus, die USA 13 Prozent - wobei die Hälfte der Bevölkerung unterversorgt ist.

Seit einem Vierteljahrhundert gibt es das Geschrei von der Kostenexplosion. Natürlich steigen die Kosten - wie die erbrachten Leistungen. Von 1960 bis 1996 sind die Ausgaben in den USA um 8,9 Prozent gestiegen, im OECD-Durchschnitt um 4,1 Prozent, in unserem Land nur um 3,5 Prozent, wie Christian Köck im "Handbuch Public Health" festgestellt hat (Springer Verlag 1999). Wir bieten das höchste Versorgungsniveau, sind absolut moderat bei den Kosten, und dennoch faseln die noch im Amt befindliche Regierung und deren in die Selbstverwaltung eingeschleuste Vasallen von unhaltbaren Zuständen.

Es gibt eine veritable Beitragseinnahmenerosion bei den Gebietskrankenkassen. Der Lohn- und Gehaltsempfänger zahlt brav und verlässlich- und das drei Mal: Kassenbeiträge, Steuern und Selbstbehalte. Letztere zunehmend und nicht so mager: 700 Millionen Euro, sagt der neue Sozialversicherungschef Martin Gleitsmann. Wenn es nach ihm geht und die Wende anhält, dürfen aber die Patienten noch mehr Kosten selbst behalten. Dennoch betrug 1999 die Einnahmenerosion 4,2 Milliarden Schilling. Verursacht wurde sie durch Firmen, die ihre Beiträge nicht entrichten, durch hingenommene Schwarzarbeit, durch den Betrug der neuen Selbständigen, die vertragslose Knechte wild gewordener Jungunternehmer sind. Hier wird freilich nichts repariert. Das Krankenkassendefizit soll eines bleiben. Nur so kann man das hervorragende System der Pflichtversicherung - von den Wendehälsen zur "Zwangsversicherung" umgetauft - loswerden. Das Geschäft mit der Krankheit soll ein großes auf dem freien Markt werden. Das Geschäft mit der Alterssicherung wurde ja schon eröffnet. Das amputierte Bein wird besteuert, doch das dritte Pensionsbein im Schüssel-Staat gefördert. Ab in den unsicheren Aktienmarkt mit den Pensionisten. Schröpfet das Alter, treibt die Maroden auf den freien Markt. Die Strukturen der Solidarität werden beseitigt. Das ist das Programm der Katholiken in der Regierung.

Es gibt nichts, was so verhängnisvoll für die Generationen nach uns sein wird, wie die Beseitigung des Sozialstaates, dieser Idee der Menschenachtung, der Chancengleichheit, der staatlich garantierten Absicherung bei den großen Risken des Lebens. Keiner soll allein gelassen werden, wenn es ernst wird und finster im Leben. Das sagt der Christ, der Marxist, das ist im System der sozialen Sicherheit Wirklichkeit geworden. Unter dem Vorwand der zu hohen Kosten, in Wahrheit aus unlauteren Geschäftsabsichten, soll dieser soziale Fortschritt aus der Nachkriegszeit, als wir noch arm und gewissenhaft waren, nun, da wir einer der reichsten Staaten und gewissenlos sind, vernichtet werden.

Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) hat in den letzten Jahrzehnten eine von der ganzen Welt bewunderte Unfallversorgung aufgebaut. Gute Medizin ist billig. Das hat die AUVA bewiesen. Sie hat daher jährlich Überschüsse in Milliardenhöhe erzielt. Die Wenderegierung hat diesen Erfolg niemals erwähnt, aber abkassiert. Nun will sie die Beiträge zur Unfallversicherung senken, will Unfallkrankenhäuser, Unfallstationen und Rehabilitationszentren schließen. Die Versorgung von Unfallopfern wird sich verschlechtern, es wird die Invalidität steigen, nur weil es die Neoliberalen so wollen. Sie wollen auch aus dem großen Unglück ein kleines Geschäft machen. Das wird zwar nie gelingen, aber die guten Strukturen, die vielen Menschen hohe Lebenserwartung beschert haben, werden zerstört sein. Eine Tragödie.

Der Autor ist Arzt, Publizist und Mitinitiator des Volksbegehrens "Sozialstaat Österreich".

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