autismus - © Foto: Shutterstock

Autismus: Leben mit spezieller Wahrnehmung

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Was es heißt, mit einer Erkrankung aus dem Autismus-Spektrum den Alltag zu bestreiten: Erfahrungsbericht einer Betroffenen.

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Was es heißt, mit einer Erkrankung aus dem Autismus-Spektrum den Alltag zu bestreiten: Erfahrungsbericht einer Betroffenen.

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Wir Menschen mit Autismus stoßen im Alltag immer wieder an unsere Grenzen, obwohl wir uns meist große Mühe geben, die Anforderungen zu bewältigen. Es fällt uns schwer, auf andere Menschen zuzugehen, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen und in Gang zu halten, obwohl wir uns oft durchaus für unser Gegenüber interessieren. Es bestehen auch Schwierigkeiten, Mimik, Gestik oder Blickkontakt anzuwenden und bei anderen richtig zu interpretieren. Daher entgehen uns im Gespräch viele Informationen, die andere Menschen ganz selbstverständlich aufnehmen können.

Isolation und Ausgrenzung

Wir sind motorisch oft ungeschickt und brauchen Hilfe bei scheinbar leichtesten Aufgaben, während wir schwierige Anforderungen manchmal fast mühelos erledigen können. Daher wirken wir auch noch im Erwachsenenalter oft merkwürdig. Oft werden wir gemieden und beschimpft oder als unhöflich bezeichnet, was immer wieder weh tut.

Eine exakte Diagnose ist wichtig, denn erst danach sind viele Verbesserungen im Alltag möglich. Vor allem aber können die Kinder dann besser vor den Hänseleien der Alterskameraden geschützt werden. Menschen, die anders als die anderen sind, laufen Gefahr, geärgert und ausgeschlossen zu werden. Sie reagieren ängstlich und unsicher, haben nur geringes Selbstvertrauen. Für ihre Mitschüler sind sie nicht wirklich interessant, da sie sich nicht sehr um ihr Äußeres kümmern und meist seltsame Interessen haben. Oft sind sie Einzelgänger, und werden nur selten von anderen Kindern unterstützt. Damit werden sie zur idealen Zielscheibe für alle, die ein Opfer suchen. Auch ich stand in der Schule meist abseits, war nicht einbezogen in die Gespräche der anderen -hätte aber auch nicht gewusst, was ich da hätte beitragen sollen.

Autistische Menschen werden viel häufiger als andere ausgegrenzt. Das kann dann so aussehen, dass die anderen Kinder nicht mehr mit dem Betroffenen spielen, seine Fragen nicht mehr beantworten oder ihn von einer gemeinsamen Veranstaltung ausschließen. Große Schwierigkeiten haben wir meist in den wenig strukturierten Situationen. Dazu gehören im Schulalltag die Pausen, aber auch Klassenausflüge.

Je strukturierter, desto besser

Während meine Mitschüler sich immer auf die Freizeit zwischen den einzelnen Unterrichtsstunden freuten und offenbar nur von Pause zu Pause lebten, hätte ich gut darauf verzichten können, denn hier wurde ein Zusammensein gefordert, das völlig chaotisch abzulaufen schien. Das überforderte mich, und so saß ich in den Pausen oft auf der Schultoilette im Hof und wartete dort auf den Gong am Pausenende.

Als ich dann in die Oberstufe kam, hatte ich anfangs das Gefühl, im Paradies zu sein, denn dort gab es so tolle Toiletten, wie ich sie noch nie zuvor an einer Schule gesehen hatte. Aber bald schon wurde mir klar, dass es in dieser Schule für mich noch viel schwerer werden würde als bisher. Es war mehr Eigeninitiative gefordert und man musste sich schon den Stundenplan zum Großteil selbst zusammenstellen. Alles erschien mir wahnsinnig verwirrend und chaotisch. Zu den wichtigsten Maßnahmen bei der Arbeit mit autistischen Menschen gehört daher die Strukturierung. Ein Lehrer mit kreativem, also eher unstrukturiertem Vorgehen kann für uns eine Katastrophe sein.

Spezielle Wahrnehmung

Auch die unterschiedliche Wahrnehmung macht sich beim Lernen bemerkbar. So nehmen wir eher Details wahr, nicht aber Beziehungen und Zusammenhänge, und können deshalb Menschen, Objekte und Situationen nicht kontextgebunden wahrnehmen. Das kann sich in der Schule etwa im Fach Deutsch oder den Fremdsprachen bemerkbar machen. Ein Text besteht für uns oft nicht aus zusammenhängenden Gedanken, sondern aus einer Ansammlung von Einzelinformationen. Viele Betroffene verstehen daher Geschichten nicht. Auch ich bin an diesen Anforderungen gescheitert, konnte mir keinen Film ansehen und keinen Roman verstehen. Heute ist das nicht mehr schlimm, aber in der Schule wurde die Fähigkeit verlangt, Texte zu analysieren, was mich hoffnungslos überforderte. Immer wieder musste ich meine Aufsätze vor der Klasse vorlesen, da sie den Mitschülern als "abschreckende Beispiele" präsentiert werden sollten.

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