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Deutsche Schule in Zerspaltung

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O. S., München, Ende Mai Wer heute die deutsche Schulreform überblickt, überzeugt sich rasch, daß viel mehr psychologische, tagespolitische und weltanschauliche Theorien entscheiden und nicht die Erfordernisse des praktischen Lebens und die Bedachtnahme auf die natürlichen Interessen der Jugend. Heute ist Deutschland in zwölf Schulprovinzen zerrissen, deren größte die Ostzone darstellt. Weder die Schultypen noch das Verhältnis von Grund- und höherer Schule, weder Lehrerausbildung noch Lehrplan und Lehrbücher stimmen über ein. Nur wo die Besatzungsmacht Teile der Reform verfügte, gibt es Übereinstimmungen zwischen Nachbarländern.

Es herrscht völlige Uneinigkeit über das Erziehungsziel, weil zugleich Meinungsverschiedenheit über die Wurzeln unserer Gegenwart und über unseren heutigen menschlichen Zustand besteht. Während Bayern die Notwendigkeit religiöser Erziehung vertritt, verkündet der Hamburger Schulsenator: „Die Religion ist nicht mehr die zentralbestimmende Macht unseres Daseins!“ Jedes Land sucht ein Menschenbild aus den vielfältigen Möglichkeiten der Vergangenheit heraus.

Während sich mit Recht die Politiker um einverständliche Organisation des Flüchtlingsausgleiches und die Bildung der deutschen Einheit bemühen, wird die Lehrerprüfung in dem einen deutschen Land von jedem anderen nicht anerkannt. Die letzte Lehrerprüfung, die allgemein galt, ist an den Lagerhoch-schulen der Gefangenschaft abgelegt worden. Die Verschiedenheit der Lehrpläne und Schulsysteme ergibt, daß eine Umsiedlung von Schleswig-Holstein nach der französischen Zone für die Flüchtlingskinder ein Unglück wird und für die Flüchtlingslehrer Arbeitslosigkeit bedeutet. Sollte ein Kind der höheren Schule zwischen dem zehnten und vierzehnten Lebensjahr von Süddeutschland nach Hamburg und dann in den Berliner Ostsektor kommen, so muß es zweimal in die Grundschule zurückkehren, denn jedesmal sind Jahre für seine Umschulung Bedingung. In diesen Tagen wird stark über den „Südweststaat“ debattiert. Niemand aber bereitet seine Verwirklichung in der Schule vor. Das Schicksal der Kinder, die bei Veränderungen in diesem Raum in sinnlose Schwierigkeiten kommen — man denke nur an die verschiedenartige Pflege der Fremdsprache —, scheint völlig uninteressant zu sein.

Um der Kinder willen brauchen wir die der Elternschaft Mitsprache erlaubende „offene Schultür“, für die die Schweiz vorbildlich ist.

Während die Junglehrer gegen den Wirrwarr des Schulwesens protestieren, ist die Kultusministerkonferenz 'im Oktober 1949 noch einmal sehr kräftig für die volle Autonomie der Länder auch auf dem Schulgebiet eingetreten. Doch bis heute ist es den elf Ministern nicht gelungen, ein gangbares Kompromiß herzustellen, das die Widersprüche zwischen den deutschen Schulprovinzen angleicht. Eine Befragung aller Erzieher und Eltern würde ergeben, daß keine Einwände bestehen, wenn wenigstens folgende Fragen im Bundesgebiet einheitlich geregelt werden:

1. die Dauer der Grundschule und die Übergangsmöglichkeiten zur höheren Schule;

2. die Typen der Lehranstalten;

3. die Ausbildung der Lehrer;

4. die Gleichheit der Lehrbücher in allen abstrakten Fächern;

5. die Reihenfolge der Fremdsprachen;

6. der Umfang der Berufsschule;

7. der Umfang des Werkunterrichtes;

8. die Teilnahme der Eltern am Schulleben;

9. die Finanzierung moderner technischer Lehrmittel;

10. die Steuerfreiheit staatlidi genehmigter Privatschulen.

Es wäre wünschenswert, wenn die Kultusminister eine derartige Einigung erreichten. Niemand wird von ihnen fordern, daß die Lesebücher und die Ge-schichtsbüdrer der Länder übereinstimmen, niemand wird auch eine einheitliche Regelung über Bekenntnis- und Gemeinschaftsschule verlangen oder die Lehrmethode über einen Leisten schlagen wollen. Die Privatschulen haben allerdings den Gegenbeweis geliefert, daß die Kinder in den zwölf deutschen Ländern keineswegs grundlegend verschieden sind, wie die streitenden Erwachsenen behaupten.

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