Bettler der Schönheit

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Zum 100. Geburtstag des Lyrikers Attila József: eine fragwürdige Übersetzung.

Es kam vor, daß ich mich abends um neun Uhr in der Schlange anstellte, die vor der Lebensmittelfabrik wartete, und als ich dann, um halb acht morgens, endlich an die Reihe gekommen wäre, wurde vor meiner Nase verkündet, das Fett sei ausgegangen. Ich half meiner Mutter, so gut ich konnte. Bot im Kino Világ (Welt) Wasser an. Stahl Holz und Kohle vom Franzenstädter Bahnhof, damit wir was zum Heizen hatten." So beschrieb der große ungarische Dichter Attila József in seinem "Curriculum vitae", wie er den Beginn des Ersten Weltkrieges erlebt hatte; er war damals neun Jahre alt und lebte mit seiner Mutter, einer armen Waschfrau, und den zwei älteren Schwestern in Budapest. Sein Vater, der Seifensieder Áron József, hatte die Familie verlassen, als Attila drei Jahre alt war; Zeit seines Lebens glaubte er, der Vater sei in Amerika, in Wirklichkeit lebte er mit einer neuen Familie in Temesvár.

Als Neunjähriger hatte Attila József bereits zwei Jahre bei einer Bauernfamilie hinter sich, wo er auf den Namen Pista umgetauft und oft brutal gezüchtigt worden war. Er machte seinen ersten Selbstmordversuch. Als er 14 war, starb seine Mutter in einem Armenhospital an Gebärmutterkrebs. Mit 17 wollte er seinem Leben zum zweiten Mal ein Ende setzen. Im Herbst 1922 erschien sein erster Gedichtband "Bettler der Schönheit".

Zwischen Suizid und Poesie

Im Jahr darauf folgt ein weiterer Suizidversuch. Im Herbst schafft der Achtzehnjährige in Budapest die Matura, um 1924 in Szeged das Studium zu beginnen. Der Titel seines zweiten Gedichtbandes heißt in deutscher Übersetzung "Nicht ich bin es, der schreit". Im selben Jahr wird er infolge des Gedichts "Christus in Aufruhr" wegen Gotteslästerung angeklagt. Als 1925 eines seiner heute bekanntesten Gedichte, "Reinen Herzens", erscheint, lässt ihn ein Professor der Universität Debrecen zu sich rufen, um ihm vor zwei Zeugen mitzuteilen, er werde verhindern, dass aus ihm ein Lehrer werde, da "wir die Erziehung der nächsten Generation nicht einem Menschen anvertrauen können, der solche Verse schreibt".

Attila József, das poetische Genie aus dem Proletariat, studierte auch die wichtigsten zeitgenössischen Denkströmungen, vor allem Marxismus und Psychoanalyse. Sein Freund Arthur Koestler hat einige seiner Gedichte als "Freudsche Volkslieder" bezeichnet; erst 1990 konnten die Aufzeichnungen aus seiner Psychoanalyse veröffentlicht werden. 1925 inskribiert er an der Universität Wien, wo er als Zeitungsverkäufer beim Rathauskeller sein Geld verdient, 1926 an der Sorbonne in Paris; dort wird das von ihm französisch geschriebene Gedicht "Chant de prolétaire" gedruckt. 1927 studiert er in Budapest, ein Jahr später erscheint sein dritter Gedichtband "Weder Vater noch Mutter habe ich".

Im Herbst 1930 wird József Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei; aus der er 1933 ausgeschlossen wird. Auch sein vierter Gedichtband beschäftigt die Gerichte und wird beschlagnahmt. 1935 lernt er Thomas Mann kennen, und als Mann 1937 im Ungarischen Theater in Budapest eine Lesung hält, will ihn József mit einem Gedicht begrüßen, das Innenministerium verbietet jedoch seinen Vortrag.

Nervenzusammenbrüche und Klinikaufenthalte, unglückliche Lieben und bitterste Armut prägen Józsefs Leben. Kristallklares Todesbewusstsein und pathologischer Persönlichkeitszerfall finden Eingang auch in die Gedichte. "Lieber Herr Doktor, ich grüße Sie recht herzlich. Sie haben das Unmögliche versucht, vergebens", schreibt er an seinen letzten behandelnden Arzt und wirft sich am selben Tag, dem 3. Dezember 1937, vor den Zug.

Ein Dichter von Weltrang

"Er war einer unserer Götter", schrieb George Tabori. Attila József ist eine Ikone der ungarischen Poesie, die er in die Moderne geführt hat. Sein Stellenwert ist mit Trakl, Lorca oder Mandelstam durchaus vergleichbar, sein internationaler Bekanntheitsgrad aufgrund fehlender Übersetzungen jedoch vergleichsweise gering. Auch im deutschen Sprachraum muss er erst entdeckt werden. Zwar hat ihn Hans Magnus Enzensberger schon 1960 in sein "Museum der modernen Poesie" aufgenommen, doch bislang hat sich kaum jemand an eine direkte Übersetzung aus dem Ungarischen gewagt; es existierten nur Nachdichtungen aufgrund von Interlinearübersetzungen, gedruckt in der ddr oder in Ungarn. Allerdings stammten sie von so prominenten Dichtern wie Franz Fühmann, Stephan Hermlin oder - Ernst Jandl.

Mängel der Übersetzung

Zum 100. Geburtstag des Dichters hat sich der Ammann Verlag an ein Unternehmen gewagt, dessen Ankündigung allein LyrikLeser in Aufregung versetzte: eine 500 Seiten starke zweisprachige József-Ausgabe mit erstmaliger Übersetzung aus dem Original. Jetzt liegt das Ergebnis vor - und es ist niederschmetternd. Denn die Übersetzungen wimmeln von Schulbeispielen, wie man ein Gedicht zerstören kann. Da sind einmal die absurden Wortstellungen, die der Übersetzer fabriziert, um zu seinen Reimen zu kommen; doch wenn der Reim ganz und gar nicht gelingt, lässt er ihn im selben Gedicht einfach weg. Das Gedicht "Winter" zerstört er, weil er der herben Józsefsche Diktion mit dem Füllwort "vielleicht" an zwei exponierten Stellen jede Schärfe nimmt. Besonders grotesk: Im autobiografischen Gedicht "Gezeugt von Áron József" gibt er der Mutter des Dichters den Vornamen Bärbel; im "Schlaflied" wird der ungarische Vorname Balázs zu Blasius: "Su, su, schlaf, kleiner Blasius." Auch das lautmalerische "su, su" ist eine Zutat des Übersetzers. Zahlreiche nachgestellte Adjektive, die im Deutschen seit Goethe ("Röslein rot") das Volksliedhafte markieren, lassen József, den großen Modernen, als Dichter des 19. Jahrhunderts erscheinen. Dazwischen findet man unverständliche Phantasie-Sätze wie "Abend lind, ländlich perlt." Hat auch der Ammann Verlag sein Lektorat schon eingespart? In dem späten Gedicht "Es schmerzt" (treffender wäre die Übersetzung "Es tut sehr weh") wird dieser zentrale und bewusst wiederholte Satz unmotiviert abgewandelt in "Ich leide elend." In dem unten stehenden Gedicht "Reinen Herzens" wird der schmerzhafte biografische Ausgangspunkt "Ich habe weder Vater, noch Mutter" einfach in die zweite Zeile gesetzt; die Interpunktion ist sowieso willkürlich, die Wortstellung gestelzt.

Pseudonym des Übersetzers

Dass sich in der Übersetzung ein fehlerhafter Satz wie "Ich harrte dir wie einst dem Abendessen" findet, wo im Original ein korrekter Satz steht, oder dass Artikel weggelassen werden, wo sie absolut nicht fehlen können, wird verständlicher, wenn man weiß, dass der deutsche Name des Übersetzers Daniel Muth ein Pseudonym ist, hinter dem sich der ungarische Übersetzer Csaba Báthori versteckt. Die Nachdichtungen aus der Feder von Lyrikern, die kein Ungarisch konnten, waren gewiss fragwürdig, aber diese Verschleierung ist es auch.

Weil es ohnehin selbstverständlich ist, dass kein deutschsprachiger Literaturkritiker auch nur so viel Ahnung von Ungarisch hat, um einen Blick in das Original zu werfen, ist diese Übersetzung flugs auf den Bestenlisten von swf und orf gelandet.

Es ist ärgerlich, wie hier die Chance für eine lesbare deutsche Ausgabe von Attila József fahrlässig vertan wurde. Denn diese Übersetzung ist trotz etlicher wunderbarer Stellen sehr oft auch dem Original nicht nahe; und lesbare Gedichte auf Deutsch hat sie erst recht nicht geschaffen. Trotzdem muss man sie zur Hand nehmen - sie ist der einzige deutsche Zugang zu diesem großen Poeten der klassischen Moderne.

Ein wilder Apfelbaum will ich werden

Gedichte 1916-1937

Von Attila József

Aus dem Ungarischen übersetzt,

ausgewählt und herausgegeben von

Daniel Muth. Mit einem Vorwort von

Ferenc Fejtö und einem Nachwort von György Dalos.

Ammann Verlag, Zürich 2005, 503 Seiten, geb., e 30,80

Buchpräsentation

Zu Leben und Werk Attila Józsefs spricht György Dalos.

Zur Übersetzung spricht Daniel Muth.

Es liest Max Müller.

Musikalische Umrahmung:

Gergely Mohl, Violoncello

Österreichische Ges. für Literatur

Herrengasse 10, 1010 Wien

www.ogl.at Tel. 01/5338159

Donnerstag, 14. April 2005, 19.00 Uhr

Tiszta szívvel

Nincsen apám, se anyám,

se istenem, se hazám,

se bölcsÝom, se szemfedÝom,

se csókom, se szeretÝom.

Harmadnapja nem eszek,

se sokat, se keveset.

Húsz esztendÝom hatalom,

húsz eszetendÝom eladom.

Hogyha nem kell senkinek,

hát az ördög veszi meg.

Tiszta szívvel betörök,

ha kell, embert is ölök.

Elfognak és felkötnek,

áldott földdel elfödnek

s halált hozó fÝu terem

gyönyörÝuszép szívemen.

REINEN HERZENS

Ich hab kein Land. Keinen Gott.

Keinen Vater. Mutter nicht.

Keine Wiege. Grabtuch keins.

Keine Liebe. Keinen Kuß.

Dritten Tages eß ich nicht:

Weder klein noch groß Gericht.

Zwanzig Jahre meine Macht.

Alle zwanzig biet ich an.

Wenn sie keiner nehmen will -

dann kauft sie der Teufel all.

Reinen Herzens brech ich ein.

Morde gar, so muß es sein.

Fängt gar mich, erhängt mich man -

Mutter Erde birgt mich dann.

Meinem schönen Herzen wächst

todbringendes Gras, Gewächs.

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