Bleiben, weggehen, wiederkehren

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REPORTAGE. Der obersteirische Ort Vordernberg in den Eisenerzer Alpen kämpft gegen die Abwanderung. Dazu beschreiten die Bewohner ungewöhnliche Wege.

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REPORTAGE. Der obersteirische Ort Vordernberg in den Eisenerzer Alpen kämpft gegen die Abwanderung. Dazu beschreiten die Bewohner ungewöhnliche Wege.

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Vor dem Kebap-Laden am Vordernberger Hauptplatz steht ein Mann in der Sonne und hält nach Kundschaft Ausschau. Nebenan flitzt eine Frau zum Nahversorger hinein, bevor der über die Mittagszeit schließt. "Unser Geschäft" steht in großen Lettern unter dem Firmenlogo "Nah und Frisch". Der einzige Greißler im Ort hätte bereits geschlossen, wenn nicht die Einwohner aktiv geworden wären. Sie haben einen Verein gegründet, um das Geschäft selbst weiterführen zu können. "Dieses Modell haben wir uns aus dem Waldviertel abgeschaut", erklärt Bürgermeister Walter Hubner von der SPÖ.

Die denkmalgeschützten Häuser mit den spitzen Türmen zeugen von einer glanzvollen Vergangenheit: Während der Monarchie war hier das Zentrum der Eisenproduktion. Vor dem "Gasthof zum Radmeister" steht eine alte Zahnradbahn, die in den Siebzigerjahren ihren letzten Dienst getan hat. 250 Vordernberger haben damals bei der Voestalpine in Donawitz gearbeitet - heute sind es zwei.

120 Arbeitsplätze mit einem Schlag

Damit der Ort nicht langsam stirbt, haben die Vordernberger einen ungewöhnlichen Schritt gemacht: Sie haben sich mehrheitlich für den Bau eines Schubhaftzentrums entschieden. Davon erwarten sie sich einen kräftigen Aufschwung - nicht nur für ihre Gemeinde, sondern für die gesamte Region. Der große graue Rohbau am Ortsanfang soll im Jänner 2014 in Betrieb gehen. Jeweils 200 Flüchtlinge, denen Österreich kein Asyl gewährt, werden hier ihre Zeit bis zur Abschiebung verbringen. Im Ort wird man von ihnen nichts mitbekommen.

Der Gemeinde geht es vor allem um die 120 neuen Arbeitsplätze. "Wir haben noch keine Dienstposten ausgeschrieben, aber auf meinem Schreibtisch liegen schon 220 Bewerbungen", sagt Bürgermeister Hubner. "Außerdem erwarten wir uns, dass die örtliche Infrastruktur durch das Schubhaftzentrum besser ausgelastet wird und die Nahversorgung abgesichert wird", erzählt Hubner.

1050 Einwohner zählt Vordernberg derzeit. Die Zahl geht jährlich zurück. Es mangel an Jobs - vor allem für Hochqualifizierte. Bürgermeister Hubner sieht ein Potenzial an Arbeitsplätzen im Elektronik-Sektor: "Wenn die Leute am Computer ortsunabhängig arbeiten könnten, wäre das für uns ideal." Dafür bräuchte Vordernberg aber eine schnellere Internetanbindung. Die Telekom baut das Breitband-Netz zwar nach und nach aus, doch wann das High-Speed-Internet nach Vordernberg kommt, ist noch unklar.

Unweit vom Hauptplatz tönt Rockmusik aus dem Jugendzentrum. Im Gemeinschaftsraum sitzen Sabrina, Markus und Christian zwischen einem Tischfußball- und einem Billardtisch in ihren Lederfauteuils und plaudern.

"Hier ist es nicht schlimm", sagt die 14-jährige Sabrina und lacht. Das Mädchen mit den knallroten Haaren besucht die Polytechnische Schule in Trofaiach. "Zum Fortgehen fahren wir halt nach Leoben. In der Nacht holt uns die Mama ab", erklärt sie. Eigentlich hat Sabrina davon geträumt, Flugbegleiterin zu werden. "Aber dafür muss man viele Sprachen lernen." Mittlerweile hat sie bei einem Friseur in Trofaiach geschnuppert und möchte dort eine Lehre beginnen.

Ihr Kumpel Christian besucht in Leoben die HTL. "Ich fahre täglich ein bis eineinhalb Stunden - pro Strecke. Dafür muss ich um halbsechs aufstehen und komme oft spät heim", erzählt er. Der 16-Jährige will Maschinenbau-Ingenieur werden und bei "Böhler Edelstahl" in Kapfenberg arbeiten. "Wegen meiner Familie und meinen Freunden hier im Ort möchte ich pendeln", sagt Christian.

Abwanderung hat nie nur materielle Gründe. Auch der Bauch entscheidet mit. Wenn die Lebensenergie einer Region nicht spürbar ist, sind die Jungen weg: "Kein junger Mensch will in einer Region leben, über die negativ gesprochen wird. Wer keine Freundschaften vor Ort hat, dem fehlt die emotionale Rückbindung", weiß Christian Gummerer, Geschäftsführer der Landentwicklung Steiermark.

In Vordernberg ist es schon 15 Uhr. Die Jugendlichen eilen zur Bushaltestelle am Hauptplatz: Sie wollen zum Eis essen nach Leoben fahren. Die ÖBB haben den Bahnverkehr zwischen Leoben und Eisenerz eingestellt, die Schienen sind abmontiert. "Der öffentliche Verkehr wird immer mehr ausgedünnt", beklagt Hubner. Um halbacht Uhr abends kommt der letzte Bus aus Leoben in Vordernberg an.

Volksschule droht Schließung

Die Nachbargemeinden Trofaiach, Hafning und Gai haben sich letztes Jahr zu einer Zusammenlegung entschlossen - die Vordernberger waren mehrheitlich dagegen. Bis 2015 sollen 542 steirische Gemeinden auf 285 reduziert und zu wettbewerbsfähigeren Regionen gemacht werden. "Auf Dauer gesehen glaube ich nicht, dass Vordernberg selbstständig bleiben können wird", meint Gummerer.

In der Volksschule neben dem Jugendzentrum ist es ruhig. 16 Kinder drückten in diesem Schuljahr hier die Schulbank. Im Herbst 2014 droht der Schule die Schließung. Bürgermeister Hubner möchte das verhindern und erhofft sich durch das Schubhaftzentrum einen Zuzug von Familien mit Kindern.

Gegenüber der Volksschule geht das Sommerfest des Kindergartens zu Ende. Kindergartenpädagogin Alexandra Winkler räumt die Hüpfburg weg. 13 Kinder besuchen derzeit den Kindergarten. "Wir würden eine Sommerbetreuung anbieten, aber der Bedarf besteht nicht. Es gibt hier nicht viele berufstätige Mütter", erzählt die 36-Jährige. An Vordernberg schätzt sie die Lebensqualität: "Ich habe ein Haus im Grünen, wo meine Kinder spielen können. Das ist mir wichtiger als ein kulturelles Angebot." Dem Schubhaftzentrum blickt Winkler optimistisch entgegen: "Viele Eltern haben sich bereits für einen Job dort beworben. Vor allem Frauen, die gerne Teilzeit arbeiten würden."

Hohe Lebensqualität und niedrige Lebenskosten sind die Zukunftschancen der Gemeinde. Diese Kombination könnte vor allem junge Familien, Selbstständige und Pensionsten locken. Die Miete einer 80-Quadratmeter-Wohnung kostet hier mit Betriebskosten und Heizung etwa 370 Euro.

Steil emporragende, felsige Spitzen rahmen malerisch den Ortskern ein. Fährt man noch ein Stück weiter hinauf in die Eisenerzer Alpen, kommt man zum Präbichl, dem Schigebiet. Die Liftanlagen wurden modernisiert, Selbstversorgerhütten gebaut. Vor allem ungarische Gäste kommen im Winter. "1999 hatten wir 9000 Nächtigungen, letztes Jahr schon 37.000 Nächtigungen. Wir erwarten einen weiteren Zuwachs", erklärt Hubner.

Mit dem EU-geförderten "Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum" erhält Österreich für die Jahre 2014 bis 2020 4,2 Milliarden Euro. Die Investitionen sollen den Alpenraum als Besiedlungsund Erholungsraum erhalten. Allein in der Steiermark verwaldet jährlich eine Fläche von 1700 Fußballfeldern. "Wenn ganze Landstriche nicht mehr bewirtschaftet werden, trifft das nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Gemeinden, den Tourismus, die Wirtschaft", warnt Gummerer.

Hinter dem historischen "Radwerk IV" am Hauptplatz hat vor knapp zwei Jahren die nordirische Künstlergruppe "The Bogside Artists" an einem sechs Mal neun Meter großen Gemälde gearbeitet. Der ehemalige ÖVP-Politiker Hannes Missethon aus Leoben hatte die Künstler nach Vordernberg geholt. Er realisiert mit seiner Initiative "Art of Reconcililation" - die Kunst der Versöhnung - immer wieder Kulturprojekte vor Ort.

Viel Zeit und Lebensweisheit

Warum sich der Kulturliebhaber ein Bergdorf als Bühne aussucht? "Hier leben viele ältere Leute - man findet viel Lebensweisheit im Ort. Ich erlebe die Einwohner als offene, wache Geister." Für die nordirischen Künstler war es interessant, deren unmittelbare Reaktionen zu erleben: "Die Leute hier haben Zeit, bleiben stehen, fragen nach." Die Entscheidung für das Schubhaftzentrum hat ihn nicht überrascht: "Hier nehmen sich die Menschen die Zeit, ihre Entscheidungen klug zu überlegen." Im Herbst lädt Missethon die guatemaltekische Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú für ein Gespräch über Krisenüberwindung nach Vordernberg.

Auch der Ort selbst befinde sich in einer Art Zwischenzeit, meint Missethon: "Das Alte lässt sich nicht mehr halten, das Neue ist noch nichtda. Orte durchleben Krisen genau wie Menschen." Er glaubt, dass Vordernberg den Tiefpunkt hinter sich hat. "Mit fällt auf, dass die Leute jetzt mehr über die Zukunft reden als über Vergangenes. Früher hieß es, der Gemeinde müsse geholfen werden. Jetzt nimmt sie ihre Zukunft selbst in die Hand."

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