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Santiago de Compostela

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Santiago de Compostela mag vielen Katholiken nördlich der Alpen als Wallfahrtsort und Kulturzentrum der katholischen Welt weniger bekannt sein, für die lateinische Welt jedoch, vor allem für die ibero-ameri-kanischen Völker, ist Santiago ein Begriff.

Auch Santiago hat seine „Heiligen Jahre“, die im Unterschied zu Rom in Abständen von Lustren gefeiert werden. Nach der zwölfjährigen Unterbrechung zweier Kriege begann sich 1948, dem letzten jakobinischen Heiligen Jahr, die „ruta de Santiago“, die dem Verlauf der Milchstraße am Himmel entspricht, erneut zu bevölkern. Durch das Tal von Roncesvalles kamen französische und belgische Pilger ins Land und wanderten unter der Sternenstraße durch Navarna, Kastilien und Le6n nach Galicien; über Barcelona gesellten sich italienische Wallfahrer zu ihnen; von Süden her marschierten portugiesische Abordnungen der Acci6n Ca-t61ica in das einst zur Krone Portugals gehörende Land Galicien; und über die Meere segelten Holländer, Iren, Amerikaner aus den Nord- und Südstaaten und Philippinen aus dem Fernen Osten zum „Stern des Abenlandes“, denn — Rom ist heilig, Santiago de Compostela aber ist dreimal heilig!

Heilig als geistiges Haupt der Provinz Galicien in Nordwestspanien, heilig als Ruheort der Gebeine des Schutzpatrons der spanischen Nation, heilig als Symbol eines tief mystischen Katholizismus spanischer Prägung in allen Ländern des iberischen Kulturkreises.

Santiago verwandelte sich in ein Heerlager Hunderttausender von Menschen, jedes Haus wurde zur Herberge, jede Wiese, jeder Feldrain vor der Stadt zum Zeltlager, wie einstmals zu den Zeiten, da Anna von England, Jakob Sobieski, Isabel von Portugal, die Heilige, Ulf und Brigitte von Sd.weden, Wilhelm von Aquitanien, Louis VI. von Frankreich, Mathilde, die Gemahlin Heinrichs V., Tausende von illustren und Millionen von unbekannten Pilgern als demütige Büßer die steinigen Straßen Spaniens zum ersehnten „P6rtico de la Gloria“ wanderten und die frommen Bauern Galiciens ihnen Bleibe und Wegzehrung boten:

„A onde irA aquel romeiro, Meu romeiro, a onde irä? Caminho de Conpostela ... Non ei s'ali chegarä.“ („Wohin wandert Jener Pilger, Mein Pilger, wohin wird er gehn? Die Straße nach Conpostela ... Ich weiß nicht, ob er je dorthin gelangen wird.“)

Santiago besitzt kein historisches Zeitalter, kein Altertum. Im Jahre 812 n. Chr. erhebt es sich gleichsam wie auf einen Zauberspruch aus den feuchten, nebelverhangenen Wiesen und Urwäldern Galiciens. Ein Einsiedler, Pelagio, sieht in einer Vision, während einer Messe, die er in einem kleinen Kirchsprengel des Landes hält,-das ins Vergessen geratene, „verlorengegangene“ Grab Sankt Jakobi, des Aposteb, dessen Gebeine seine Jünger aus Jerusalem nach Spanien gebracht hatten. Er benachrichtigt den Bischof Theodomir von Iria Flavia, und dieser, begleitet von einer feierlichen Prozession, folgt dem Eremiten durch Wald und Wildnis — und dort im dichtesten Gestrüpp, von Wurzeln und Moos umwachsen, finden sie den Marmorsarkophag des Apostels.

König Alfons IL, der Keusche, eilt herbei und befiehlt, eine Kirche über dem Grabe zu errichten — der Grundstein zu Santiago ist gelegt. Ein spanischer Geschichtsschreiber vergleicht dieses Datum, den 24. Juli 813, in seiner Bedeutung für die Welt des Okzidents, mit dem Datum der Gründung Roms! Im selben Jahr erscheint der Apostel Kaiser Karl dem Großen in Aachen und zeigt ihm den Weg zur Befreiung der Iberischen Halbinsel aus der Sklaverei der Mauren — die Milchstraße —, und Karl beginnt den Kampf, der im Tal von Roncesvalles zunächst scheitert. Bewegtere Ereignisse, in denen Santiago zwischen Glanz und Vernichtung schwankt, füllen die nächsten Jahrhunderte.

Endlich, aus dem späten Mittelalter, mündet Compostela allmählich in den ungetrübten Glanz seiner intensiven Geistigkeit.

Kirchenfürsten, Könige, einen Papst (Johann XXII.), Dichter und Sänger, berühmte

Architekten, Ärzte, Juristen und Forscher, Bildhauer und Mbsionare gab Santiago de Compostela Spanien und der Welt. Alfonso Fonseca, der Literat, Juan Antonio Bouzas, der Maler, Jose1 Gambino, Sohn eines Genuesen und Gründer der modernen composte-lanischen Bildhauerschule, sind Composte-laner. Wie in Compostela ein eigener Stil des Barocks entsteht, so ist es Hochburg der Sänger des galicischen Romantizismus, die in ihren „cantigas de saudade“, den Liebesund Sehnsuchtsliedern einen eigenen Zyklus der spanischen und portugiesischen Literaturgeschichte formen. Abertausende berühmter Namen sind es, die funkelnd von Compostela aus in die lateinische Welt strahlen und in Ehrfurcht allüberall genannt werden, wo romanische Zunge klingt.

J)as ist Santiago de Compostela in seiner Bedeutung für die Welt. Spanien ist stolz auf dieses leuchtende Juwel im glorreichen Schatz seiner Geschichte. Alle fünf Jahre, vor Beginn der aus dem Ausland eintreffenden Wallfahrten, versammelt sich, in einer seltsamen Mischung von nationalistisch-patriotischem Enthusiasmus und religiösem Gefühl, das „offizielle Spanien“ am Sarkophag des heiligen Apostels. Offiziere und Fähnriche der Kavallerie reiten aus allen Provinzen des Landes „Camino de Santiago“. Die in der staatlichen Studentenorganisation, dem SEU, zusammengefaßte akademische Jugend reist in Autobussen nach Galicien. Die Minister, die Cortes und der Staatschef selbst begeben sich in ihren Luxuslimousinen zu ihrem Nationalheihgtum Santiago. Und umgeben von Ministern, Generälen, Admi-rälen und deren Damen schreitet Franco (dessen Wiege unweit von Santiago stand) die Stufen zur Kathedrale hinan, vom Kardinal von Toledo und dem Erzbisdiof von Santiago empfangen, und er und sein Stab knien mit allen Zeichen ihrer weltlichen Würde vor dem Hochaltar und bringen ihre „Ofrenda al Apostol“ dar, die mehr eine politische Manifestation oder sogar ein gesellschaftliches Ereignis denn ein Akt wahrhaft chrbtlicher Demut scheint. Das ist noch das Spanien der „Partisanen“, der rebellischen Landedlen, die in Santiago, wie Sankt

Jakobus hir heißt, eher ihren eigenen „Nationalhelden“, denn den Heiligen und Weltapostel zu sehen wünschen.

Wenn die Sommermonate, die Zeit der großen Peregrinationen, vorüber sind, wird Santiago, mit den ersten Nebeln des Herbstes, wieder zu einer kleinen Provinzdiözese. Wochen und Monate hindurch plätschert eintönig der Regen in die engen, grauen Gassen, auf die breiten, nun vereinsamten Versammlungsplätze der Pilger, auf die symmetrischen Freitreppen des „Obradoiro“, über die nur zeitig im Morgengrauen schwarz verschleierte Frauen unter ihren Regenschirmen zur Frühmette hinauftrippeln oder tagsüber nur dann und wann ein altes Müttcrlein oder ein greiser, gebrechlicher Landgeistlicher aus einem der Fischer- und Gebirgsdörfer Galiziens, der den streitbaren Apostel um Kraft bitten will, damit er sein Bündel an Sorgen und Mühen in seinem einsamen Kirchensprengel aufrechter ertrage.

Mittags und Abends hallen die Trottoire unter den Laubengängen wider von den eiligen Schritten der Studenten aller Fakultäten der Universität, die aus dem Hörsaal zur Mensa oder zu ihrer kleinen Studentenpension eilen.

Dann umhüllt die Nacht mit ihrem dunklen Mantel die ehrwürdigen Mauern der tausendjährigen Stadt. Feucht, fast flüssig, blaken die Regendämpfe in den Straßen, ununterbrochen rieselt es vom Himmel herab, Regen, endloser Regen. Ein kalter Lufthaudi vom Ozean her zieht durch die Täler der Gebirge und durchschauert die Stadt, deren Bürger schlafen. Nur hier und dort dringt ein Lichtschein aus verhangenen Fenstern. Ein Student, mit herben, fast aszetischen Gesichtszügen, der einst vielleicht die Mitra tragen oder dessen Namen als Arzt, Jurist oder Archäologe Klang haben wird in der Geisteswelt, sitzt über seinen Büchern, und die Gegenwart ist für ihn versunken. In einem Lesesaal der Universität kramt ein Professor in alten Büchern und Urkunden, während im Gebäude nebenan, einem medizinischen Institut, Ärzte und geistliche Schwestern unter dem Licht der Quarzlampen schweigsam und mit knappen, wohleinstudierten Handgriffen an einer schwierigen Operation arbeiten.

Santiago schläft nie!

Santiago wacht im Dunkel der tiefsten Nacht die zeitlose Wache einer stolzen, un-, überwindlidien Kultur.

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