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Victorian Age

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London 1819. — Uber dem Weifenhaus liegt ein Dunkel wie am Ende eines Shakespeareschen Königsdramas. Noch irrt Georgs III. längst umnachteter Geist durch die öden Hallen von St. James, ein Jahr später beginnt das wenig erfreuliche Dezennium Georgs IV., der für alle Dandys und die übrigen Taugenichtse Europas schon als „Regent“ ein fragwürdiges Beispiel gegeben. Im gleichen Jahre stirbt sein Bruder Kent (Viktorias Vater), so muß 1830 sein Bruder Clarence als Wilhelm IV. widerwillig seine nautischen Neigungen aufgeben und für sieben Jahre die Krone des United Kingdom tragen. „End of a Chapter“ könnte man mit Galsworthy sagen, die Geschichte des Hauses Hannover wird durch die des Hauses Koburg abgelöst.

Weit ab von diesem düsteren Ausgang der georgianischen Zeit wächst die kleine Prinzess Royal Victoria auf, behütet von ihrer zweimal frühverwitweten Mutter Charlotte von Sachsen-Koburg-Gotha, geleitet von ihrem Oheim Leopold, dem ersten Belgierkönig und späteren „Schwiegervater von Europa“, den die Königin bis zu seinem Tode (1865) „immer wie einen Vater“ geliebt und verehrt hat. — Als Viktoria mit ungefähr zwölf Jahren erfährt, daß sie einmal Königin werden wird, begegnet sie dieser Aussicht weder mit Furcht noch mit Begeisterung, sie sagt in ihrer schlichten Art, vor der sich später Könige und Staatsmänner gebeugt haben: „Ich will vor allem gut werden.“

Das „Victorian Age“ umfaßt wohl äußerlich den langen Zeitraum von 1837 bis 1901 (Königin Viktoria starb am 22. Jänner 1901, also vor nunmehr 50 Jahren), es beginnt recht eigentlich erst — worauf auch Viktorias bedeutender Biograph Lutton Strachey hinweist — in den vierziger Jahren unter dem ernsten Einfluß des Gatten, des Prinzen Albert von Sachsen-Koburg-Gotha. Dieser Neffe Leopolds von Belgien war schon lange füT die Verbindung mit Viktoria bestimmt, wobei persönliche Neigung und dynastisch-politisches Interesse eine selten harmonische Verbindung eingingen. Die beiden Dezennien der überaus glücklichen Ehe bilden gleichsam das Kernstück im Wirken dieser Fürstin. Frau und Mutter, Mutter von neun Kindern; der frühe Tod des erst 42jährigen Prince Consort am 14. Dezember 1861 breitet über die zweite Lebenshälfte der Königin die Schatten der Witwenschaft, die sich nie mehr werden ganz verdrängen lassen. Man hatte anfangs geglaubt, der junge Koburger werde nichts anderes sein (und sein wollen) als der Vater der königlichen Kinder, doch sollte sich sein ernster Einfluß auf alle Fragen der Innenpolitik, Wirtschaft und Sozialpolitik erstrecken.

Dazu lenkte er das Interesse der Königin auf die Volksbildung und eine damit verbundene durchgreifende Schulreform, alles Dinge, die neu klangen, die aber dem in sich doch recht konservativen viktoriani-schen Zeitalter einige hellere Töne verleihen sollten. Jedenfalls bemühte sich Viktoria in den nächsten Jahrzehnten, vielfach die Wege weiterzugehen, die ihr der so früh entrissene Gemahl einmal gewiesen hatte.

Bei aller Zurückhaltung des Prince Consort bei den eigentlichen Regierungsmaßnahmen seiner königlichen Gemahlin war auch hier sein Einfluß merkbar. So im Gegensatz zu Palmerston während des Krimkrieges und in der Haltung der Königin gegenüber der Einigungsbewegung in Italien. Hier stand Viktoria unbedingt auf Seiten Österreichs, wie sie dies auch 1866 tat, doch konnte sie nach ihrer konstitutionellen Stellung die Politik des Kabinetts Palmerston-Russell zugunsten Cavours und Garibaldis nicht ändern. Vielfach mußte Viktoria auch ihren bis zuletzt sehr regen Familiensinn in Rücksicht auf die allgemeine politische Lage zurückstellen, wenn ihre dynastischen Bindungen nicht überhaupt in Kollision kommen mußten. So im Kampf um die Elbherzogtümer 1863/64; das Kabinett stand auf Seiten Dänemarks, Viktoria aber hegte Sympathien für Preußen; auch Albert hatte kleindeutsche Neigungen gehabt und die Einigung der deutschen Stämme unter preußischer Führung vorausgeahnt, freilich nicht in der Form, wie sie später einmal Bismarck durchführen sollte. Der Kampf um Schleswig-Holstein brachte Viktoria in eine besonders peinliche Lage: 1858 hatte ihre älteste Tochter den preußischen Kronprinzen geheiratet, 1862 der Prince of Wales (spätere Eduard VII.) eine Toditer des Königs von Dänemark, die „Lösung“ von 1864 konnte sie also nicht völlig befriedigen. Ganz klar aber war ihre Stellung 1866, als Bismarck, der für sie zeitlebens „the terrible man“ blieb, die deutschen Mittelstaaten vernichtete, unter anderem auch Hannover, das doch mit England bis 1837 in Personalunion gestanden hatte. Damals versicherte sie immer wieder Österreich ihrer Sympathien.

Die klassische Epoche des viktoriani-schen Zeitalters wird nach der staatspolitischen Seite immer durch die beiden Namen Gladstone und Disraeli bezeichnet werden müssen. W. E. Gladstone, der ehemalige Tory und spätere machtvolle Führer der englischen Liberalen, der um seiner Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber viermal an die Spitze des Ministeriums trat, das letztemal 83jährig als in ganz England verehrter GOM (grand old man), hatte zweierlei erreicht: die Reform des Wahlrechts zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Kreise und den Beginn einer versöhnlicheren Politik mit Irland. Gerade in seiner Irlandpolitik bewies er immer wieder, daß man die Gewalt nicht mit Ausnahmegesetzen, sondern in maßvoller Berücksichtigung der gegebenen Forderungen überwinden kann. Die weitere Entwicklung in Irland (und auch in der übrigen Außenpolitik Englands) sollte dem „grand old man“, der die Zeiten der politischen Muße zu religionswissenschaftlichen und Homer-Studien verwendete, auf weiten Strecken rechtgeben. — Ganz anders Disraeli, dessen feine dichterische Art schon vor seiner politischen Tätigkeit das Herz der Königin gewonnen hatte, während ihr Gladstone innerlich immer fernstand, fernstehen mußte. Disraeli, das ist der eigentliche Gestalter des Empires, der seiner Königin 1876 den Titel einer „Kaiserin von Indien“ brachte, der in drei Erdteilen die Waffen und die Kultur (oder nur Zivilisation?) Englands zum Siege führte und der auf dem berühmten Berliner Kongreß (1878) der bedeutendste Partner Bismarcks ist, so wie es etwa am Wiener Kongreß Talleyrand gegenüber Metternich gewesen. Disraeli, Lord Bea-consfield, versteht auch die besondere Neigung Viktorias für das schottische Hochland, wo sie sich jährlich monatelang aufhält, eingesponnen in die Erinnerungen an den unvergeßlichen Prince Consort, während diese Schottlandliebe in den Kreisen der englischen Aristokratie, aber auch im Parlament zuweilen kritisiert wird.

1887 feierte die Königin ihr 50jähriges, 1897 ihr 60jähriges RegierungsJubiläum als einen glanzvollen Ausdruck ihres Imperiums, das freilich schon damals irgendwie seinen Höhepunkt überschritten hatte. — Die Parallelen zum franzisko-josephinischen Zeitalter drängen sich geradezu auf: beide — Viktoria und Franz Joseph — werden in gleich jugendlichem Alter zum Throne berufen, beiden ist eine mehr als sechzigjährige Regierungszeit bestimmt, beide sind in ihrer Persönlichkeit letzter Ausdruck einer Völkergemeinschaft, deren Nationen im neuen Jahrhundert früher oder später ihre eigenen, oft recht tragischen Wege gehen werden. Beide erleben das Werden eines ungeheuren technischen Aufstiegs, in dessen Rahmen ihre Hauptstädte zu Weltstädten werden, beide steigen von der Postkutsche ihrer Jugend beherzt in die Eisenbahn um und bedienen sich für ihre ausgebreitete Korrespondenz des Telegraphen. Und beide verbinden eben mit ihrem Namen eine in sich geschlossene, in der Geschichte bedeutsame Zeit. Das „Victorian Age“ ist ja nicht nur der Ausdruck einer im letzten doch noch ziemlich konservativem „Prosperity“, nicht nur gekennzeichnet durch die Namen Gladstone und Disraeli oder gar Roberts und Kitchener (die Feldherrn), sondern mehr noch durch Dickens, Tennysson und Bul-wer, die Dichter, oder durch John Ruskin, der den Menschen im Menschen suchte, und Florence Nightingale, die Schöpferin der modernen Krankenpflege, und deshalb wohl dieses kurzen Gedenkens wert.

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