Integration gelungen, ein Vater verloren
Migration und Integration andersrum: In Feridun Zaimoglus neuestem Roman "Siebentürmeviertel" muss sich nicht ein türkisches Kind in Deutschland zurechtfinden, sondern ein deutscher Bub sucht in der Türkei eine neue Heimat - und einen neuen Vater.
Migration und Integration andersrum: In Feridun Zaimoglus neuestem Roman "Siebentürmeviertel" muss sich nicht ein türkisches Kind in Deutschland zurechtfinden, sondern ein deutscher Bub sucht in der Türkei eine neue Heimat - und einen neuen Vater.
Mich hat Deutschland bereichert. Und mein Land ist gastfreundlich. Und in meinem Land werden aus Gästen künftige Gastgeber", schrieb der Schriftsteller Feridun Zaimoglu Anfang September in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als Antwort auf den Beitrag "Warum macht unser Mitgefühl schlapp?" von Milosz Matuschek, in dem dieser unter anderem festhielt: "Gastfreundschaft ist für uns das, was wir von anderen erwarten".
1964 in Baku in der Türkei geboren, kam Zaimoglu als Kind mit seiner Familie nach Deutschland. 1995 debütierte er als Schriftsteller mit "Kanak Sprak"."Mißtöne vom Rande der Gesellschaft" lautete der Untertitel seiner Nachdichtungen von Interviews mit Männern türkischer Abstammung.
"Ich werde immer wieder gefragt, ob ich ein deutscher Autor bin, und dann kommt: 'ja gut, aber ...'. Ich sage dann: 'ja gut, aber: meine Eltern sind Türken der ersten Generation'; so weit ist man schon", ärgerte sich Zaimoglu 2006 in einem Interview für die Literaturzeitschrift TEXT + KRITIK. Trotzdem wird der Autor von Romanen wie "Liebesmale, scharlachrot" (2000),"Leyla" (2006) und "Liebesbrand"(2008) immer wieder mit dem Etikett "Migrationsliteratur" bedacht - einen "Ekelbegriff" nannte Zaimoglu dieses Wort im selben Interview. "Es sind die gleichen Begriffe, die stumpfen Werkzeuge, mit denen man da versucht, etwas anschaulich zu machen. Aber ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich weder auf Politkasparei Lust habe, auf eine Salonradikalität, noch auf all diese Migrationsprojekte. Da fühle ich mich als Alibitürke, als Gutachter."
Istanbul 1939 und 1949
Und doch nimmt sich Zaimoglu in seinem neuesten Roman "Siebentürmeviertel" der Themen Migration und Integration an. Allerdings dreht er die übliche Richtung um - insofern bleibt ihm dieses Mal die ihm unangenehme Frage "Ist das autobiografisch?" erspart. Hier kommt nämlich kein türkisches Kind nach Deutschland und muss sich dort zurechtfinden, sondern ein deutscher Bub ist mit seinem Vater nach Istanbul geflohen. Wir schreiben das Jahr 1939 und Wolf hat im Siebentürmeviertel mit seinem Vater bei der Familie von Bayka Hanim und Abdullah Bey Unterschlupf gefunden. Der kleine Deutsche wird "Hitlersohn" und "Arier" genannt und soll in Wort und Tat jene Meinungen bestätigen, wie man sich einen Deutschen eben so vorstellt.
In diesem Siebentürmeviertel, wo Griechen, Armenier und Tschetschenen aufeinandertreffen, Moslems, Christen und Juden, herrscht nicht nur die alte Sitte (aufmüpfige Frauen wie die Tochter Derya haben es dort daher schwer), sondern auch Gewalt. Kriegerische Szenen zwischen den Kindern und Jugendlichen (der zweite Teil des Romans spielt zehn Jahre später, im Jahr 1949) dominieren die Handlung. Im Kleinen spiegeln sich die Vorurteile, Bündnisse und Ausgrenzungen der Großen. Es fehlt nicht an Ingredienzien, die zu einem Adoleszenzroman dazugehören, allen voran die Einführung in die Sexualität durch ältere Frauen.
Vater Franz verschwindet, um die Ehre der Tochter des Hauses nicht zu verletzen. Wolf ersetzt ihn durch seine türkischen Pflegeeltern, die er bald Mutter und Vater nennt. Nachdem deren Sohn Batur stirbt, wird er von ihnen wie ein eigener Sohn behandelt. Immer tiefer taucht er in die archaisch anmutende Welt ein, wird ein Teil von ihr, obwohl sich der Pflegevater bemüht, ihn seine eigenen Sitten behalten zu lassen. Doch Wolf will dazugehören. Und als eines Tages sein Vater Franz auftaucht, ist er ihm kein Vater mehr. Längst gehört Wolf zu der türkischen Familie, die ihn großgezogen hat. Mehr noch, es scheint, dass sein Fremdsein zu einer besonders starken Form der Identifizierung geführt hat. Der eigene Vater, der wieder nach Deutschland zurück will, muss ohne Wolf reisen. Denn: "Das Viertel ist mein Land." Die Integration ist "gelungen", ein Vater verloren.
Überhöhter Ton
So weit, so brisant. Das Problem dieses Romans ist der durchgängige pathetische, oft biblische Ton. "Mein Vater: Er ist ein Fels, keine Brandung kann ihn zerspalten. Mich schützt er, mich nährt er, mich lobt er nicht, mich liebt er. Sein Gesicht im Schein der Lampe: Holz, in das man Furchen geschnitten hat. Nichts wird ihn erschüttern, er fällt nur, wenn er fallen will", heißt es anfangs über Vater Franz, der aber bald ersetzt sein wird. Der überhöhte Grundton wechselt nie, egal, wer gerade spricht oder denkt, trotz der vielen Stimmen, die die Protagonisten diesem Roman geben könnten. Fast 800 Seiten lang ist dieses Buch, mit 99 Kapiteln, die als Titel jeweils einen der 99 Namen Allahs tragen.
Nicht nur der Ton, auch die Erzählperspektive ist fragwürdig. Wenig glaubwürdig ist, wie ein Sechsjähriger hier politische Gespräche versteht oder Sätze wie diesen denkt: "Es sind Zeiten, da keiner seinen Besitz hergibt." Oder gar zu anderen Kindern Folgendes spricht: "ihr zwingt das Mädchen zu einem abartigen Spiel." Leicht macht es Zaimoglu seinen Leserinnen und Lesern dadurch nicht, ihm auf dieser literarischen Reise ins Istanbul der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu folgen.
Siebentürmeviertel
Roman von Feridun Zaimoglu
Kiepenheuer & Witsch 2015 800 S., geb., € 25,70
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