SAID: "respektiere endlich meine winterlügen"

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Psalmen: uralte Formen des Gesangs und Gebets. SAID schrieb sie neu. Ein Vorabdruck.

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Psalmen: uralte Formen des Gesangs und Gebets. SAID schrieb sie neu. Ein Vorabdruck.

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"bei lesungen ... sind die zuhörer oft irritiert. meist wollen sie nicht begreifen, daß ich zwar keine religion ausübe, aber dafür eine ausgeprägte religiosität habe. als ob das gehäuse einer religion - sprich: moschee, kirche oder synagoge - wichtiger wäre als die ergriffenheit, die ich als religiosität bezeichne. zucht und ordnung anstelle spiritueller kraft?" schrieb der in Teheran geborene Lyriker SAID in der Furche (48/2005). Seit 1965 lebt er in München im Exil. In seinem neuesten Buch, das am 22. Februar im C. H. Beck Verlag erscheinen wird, überrascht SAID nun mit uralten Formen des Gesangs und Gebets: mit "Psalmen". Die Furche bringt einige im Vorabdruck.

herr

gedenke der blindschleiche und des regenwurms

wenn dich die hybris überkommt

gedenke auch des narziß

und versöhne ihn mit seiner pfütze

lächle

damit deine gerechtigkeit erträglicher wird

meinen träumen standhält

ohne meine mutter zu vergessen

bedenke oh herr

du bist nichts ohne unseren körper

so gewahre unsere haut unseren schweiß unseren kot

damit du in deiner einsamkeit

zu keiner kirche erstarrst

es ist an der zeit oh herr

daß du der rache abschwörst

um unser gedächtnis zu retten

so verkünde

daß die reinheit nicht die schwester der wahrheit ist

und respektiere endlich meine winterlügen

verzeih oh herr

denn der mensch ist ein ungewärmtes wesen

herr

du sollst stets wandern und dich nirgends

niederlassen

denn es gibt keine behausungen mehr

nur schritte

sei laut und eindringlich

nimm teil an mir und meinen regungen

geleite mich

bis hin zu deinem brot

damit mein wort erwache

siehe oh herr

ich bewege mich zu dir

ohne dich anzusprechen

denn das wort birgt die gefahr in sich

das gewissen zwischen uns zu verlagern

so achte auf mein schweigen

es ist rand und mitte zugleich

eine furt zu dir

und rettet mich vor dem abgrund in mir

der so nah ist

daß er unsichtbar bleibt und blendet

herr

ich weigere mich

das gebet als waffe einzusetzen

ich wünsche es als einen fluß

zwischen zwei ufern

denn ich suche weder strafe noch gnade

sondern eine neue haut

die diese welt ertragen läßt

siehe oh herr

auf meiner wanderung bin ich gewachsen

und habe das flüstern nicht verlernt

gib daß ich das bindeglied begreife

zwischen dem folterknecht und dem gefolterten

daß der ort der ankunft sich wandle

durch meine flucht

und bete für mich

damit die häuser sich nicht verhärten

die ich verlassen habe

herr

halte zu mir

bei meinen verschwörungen

gegen nüchterne götter

und deren geringe wärme

gib daß ich nie ankomme

denn jeder fremde

ist der gesandte jenes landes

wohin er aufgebrochen ist

herr

laß uns liebende sein

selbst wenn unser wissen wächst

und die wahrheit abnimmt

siehe oh herr

heiden und missionare fallen ins gras

und wachsen nicht mehr

auf dem blechernen fensterbrett laufen engel umher

stolz auf ihre nutzlosigkeit

und rufen neue götter aus

herr

ich glaube an das fleisch

seine verschwendung und seine unbelehrbarkeit

und wenn ich durch dieses zwiegespräch

deinen leeren platz erwecke

so bin ich voller hoffnung

daß unser gespräch ein gebet werde

für die einsamen

herr

ich suche dich

mach daß diese suche nie aufhört

siehe

sie bedrängen mich von allen seiten

die gottesbesitzer

doch befragen sie nie ihren gott

denn sie fürchten seine antwortlosigkeit

ich aber vertraue meinem gebet

dem alten brandstifter

der auf der suche nach einer neuen behausung

die alten häuser verrät

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