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Digital In Arbeit

GEBET EINES PRIESTERS AM SONNTAQABEND

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Herr, heute abend bin ich allein. Allmählich ist es in der Kirche still geworden, Die Menschen sind fort, Und auch ich bin nach Hause gegangen, Allein. i

Ich bin den Leuten begegnet, die vom Spaziergang zurückkehrten. Ich bin am Kino vorbeigegangen, das seine Portion Menschen ausspie. Ich bin an den Terrassen der Kaffeehäuser entlanggegangen, wo die müden Spaziergänger versuchten, die Lebensfreude eines festlichen Sonntags zu verlängern. Ich stiefj auf die Kinder, die am Gehsteig spielten, Die Kinder, Herr,

Die Kinder der anderen, die niemals mir gehören werden.

Herr, da bin ich, Allein.

Die Stille beengt mich,

Die Einsamkeit bedrückt mich,

Herr, ich bin 35 Jahre alt,

Ich habe einen Leib wie die anderen,

Kräftige Arme für die Arbeit,

Und ein Herz, wie aufgespart für die Liebe;

Aber ich habe alles Dir geschenkt.

Es ist wahr, dafj Du es brauchtest,

Ich habe Dir alles geschenkt, aber es ist hart, Herr.

Es ist hart, seinen Leib zu verschenken: er möchte sich anderen hingeben.

Es ist hart, alle Welt zu lieben und niemanden zu behalfen.

Es ist hart, eine Hand zu drücken, ohne sie festhalten zu wollen.

Es ist hart, eine Zuneigung aufkeimen zu lassen, aber nur, um sie Dir zu schenken,

Es ist hart, für sich selber nichts zu sein,'um ihnen alles zu sein.

Es ist hart, zu sein wfe elie a IM eifernderer3 zu Vein.1A Es ist hart, immer zu schenken, ohne darauf bedacht zu sein, etwas dafür zu empfangen. Es ist hart, den anderen voranzugehen, ohne dafj jemals einer vor einem selber geht. Es ist hart, die Sünden der anderen zu erleiden, ohne sich weigern zu können, sie aufzunehmen und sie zu tragen. Es ist hart, Geheimnisse zu erfahren, ohne sie mitteilen zu können.

Es ist hart, immer die anderen mitzureifjen, und sich nie auch nur einen Augenblick lang gehenlassen zu können. Es ist hart, allein zu sein. Allein vor allen,

Allein vor der Welt, allein vor dem Leiden, dem Tod, der Sünde.

Mein Sohn, du bist nicht allein, Ich bin bei dir, Ich. bin du.

Denn Ich bedurfte einer Menschheit als Ergänzung, um Meine Fleischwerdung und Meine

Erlösung fortzusetzen. Von aller Ewigkeit habe Ich dich erwählt, Ich brauche dich.

Ich brauche deine Hände, um Mein Segnen fortzusetzen, Ich brauche deine Lippen, um Mein Sprechen fortzusetzen, Ich brauche deinen Leib, um Mein Leiden tortzusetzen, Ich brauche dein Herz, um Meine Liebe fortzusetzen, •Ich brauche dich, um Meine Erlösung fortzusetzen, Bleib bei Mir, Mein Sohn,

Herr, da bin ich; Da ist mein Leib, Da ist mein Herz, Da ist meine Seele.

Gib mir, grofj genug zu sein, um die Welt in mich hineinzuholen, Stark genug, um sie fragen zu können,

Rein genug, um sie zu umarmen, ohne sie festhalten zu wollen. Gib mir, dafj ich ein Ort der Begegnung bin, aber nur ein Orl des Durchganges, Ein Weg, der nicht festhält, weil es nichts Menschliches auf ihm zu ernten gibt, ein Weg, der nur zu Dir führt.

Herr, heute abend, während alles voll Schweigen ist und ich in meinem Herzen so bitter den nagenden Zahn der Einsamkeit spüre, Während mein Leib seinen Hunger nach Freude hinausheult,

Während die Menschen mir die Seele zerreifjen und ich mich unfähig fühle, sie zu befriedigen,

Während auf meinen Schultern die ganze Welt lastet mit all ihrem Gewicht des Elends und der Sünde, ,

Gebe ich Dir noch einmal mein Ja, nicht in laut lachender Freude, sondern langsam, leuchtend, demütig, Ganz allein, Herr, vor Dir, Im Frieden des Abends.

Aus „Herr, da bin ich“, Verlag Styria, Graz

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