Neuer eiserner Vorhang

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Gidon Kremer hat eine CD-Serie mit zeitgenössischer Musik aus Osteuropa herausgebracht.

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Gidon Kremer hat eine CD-Serie mit zeitgenössischer Musik aus Osteuropa herausgebracht.

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Zurückgekehrt aus Moskau kann man sich einen Vergleich mit der Vergangenheit nicht versagen: Mitten im 14. Jahrhundert, der dunklen Epoche der grausamen Mongolenstürme in der russischen Geschichte, schuf Andrej Rubljow seine Dreifaltigkeits-Ikone, heute in der renovierten Tretjakow-Galerie in Moskau zu bewundern. Vollendete Fügung, leuchtende Komposition und tiefer Friede werden hier einzigartige Gestalt, inmitten von Krieg und Verzweiflung.

Beobachtet man das aktuelle Musikleben in den östlichen Reformländern und spricht mit einheimischen Musikern und Komponisten, denen es in dieser Zeit gewaltiger Umbrüche, die ihren Namen in der Tat verdienen, so ziemlich an allen grundlegenden materiellen Mitteln gebricht, ist man unwillkürlich an das Wunder der Rubljow-Ikone erinnert: Eine unglaublich vielfältige, vitale und spannende Musikkultur hat sich hier in den letzten Jahrzehnten, scheinbar unberührt von den tristen historischen Umständen, entwickelt, kaum beachtet in den westlichen Musikzentren, die zum Teil Hochburgen der Wiedererrichtung eines geistigen Eisernen Vorhangs geworden sind.

Es ist nun ein den üblichen Definitionsbereich discographischer Neuerscheinungen weit übersteigendes, beinahe kulturpolitisches Verdienst von Gidon Kremer, in den letzten beiden Jahren eine Serie von vier CDs (alle bei TELDEC erschienen) mit osteuropäischer Musik unseres Jahrhunderts herauszubringen. Daß sich in dieser wirklich singulären Serie so etwas wie der Geist von Lockenhaus deutlich spürbar manifestiert, darf einen als österreichischen Musikfreund ein wenig stolz machen. (In der kleinen burgenländischen Marktgemeinde finden seit 1981 die von Kremer gegründeten "Sommerlichen Festwochen für Kammermusik" statt.)

Zu einer der meinem Empfinden nach sensationellsten Entdeckungen der letzten Jahre geriet die CD mit Werken des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov (TELDEC 4509-99206-2). 1937 in Kiev geboren, komponierte Silvestrov 1990/91 eine Symphonie für Violine und Orchester, benannt "dedication". Jenseits aller westeuropäisch-avantgardistischen Dogmen entwickelt Silvestrov eine höchst persönliche, abgründig schwärmerische Tonsprache, die einen als Hörer ins Mark triff. Kremer, der geniale Interpret dieses Werkes, hat treffend von Klangwelten wie "Tod in Kiev" oder "Musik auf der Suche nach der verlorenen Zeit" im heutigen "zweiten Fin de siecle" gesprochen.

Verzicht auf kulturelle Ost-Erweiterung?

Das anschließende "post scriptum" für Geige und Klavier ist eine der filigran-verwehendsten Abschiedsmusiken, die je für diese beiden Instrumente geschrieben wurden. Silvestrov, zum Unterschied zu vielen seiner Musikerkollegen nicht in den Westen emigriert, sondern nach wie vor in Kiev lebend, bleibt die größte Hoffnung auf ein musikalisches ex oriente lux.

Russischen Komponisten unseres Jahrhunderts gilt die CD "Out of Russia" (TELDEC 4509-98440-2). Aus aktuell-bedauerlichem Anlaß ist vor allem auf die Einspielung des 4. Violinkonzertes (1984) von Alfred Schnittke zu verweisen, dessen verästelter Nuancenreichtum es verständlich macht, warum Kremer sich schon seit Jahrzehnten vehement-kontinuierlich für das vielschichtige und doch niemals postmodern-beliebige Werk seines jüngst verstorbenen Freundes einsetzt. Von klagender Archaik hingegen die "Begräbnisspiele zu Ehren von Chronos" für drei Flöten, Klavier und Zymbal (1964) von Arthur Vincent Lourie (1892-1966), ein verstörendes Spätwerk mit geradezu magischer Zeitgestaltung. Ein Kabinettstück ist die Strawinsky-Instrumentierung einer Schwanensee-Szene aus dem gleichnamigen Tschaikowsky-Ballett!

Werke von Komponisten seiner baltischen Heimat enthält die CD "From my home" (TELDEC 0630-14654-2), ihrer Atmosphäre und ihrem kulturellen Humus hat Kremer ja auch eine faszinierende Autobiographie gewidmet ("Kindheitssplitter" 1993, Piper-Verlag); und auch das heurige Festival in Lockenhaus hat viele Facetten dieser reichen Tradition präsentiert: Als einziger Komponist im Westen bekannt ist Avo Part (geboren 1935), vollkommen unverständlich bleibt, warum man bis heute in unseren Breiten weder vom Violinkonzert (1993) von George Pelecis (geboren 1946) noch von der unsentimental-hintergründigen "Musica dolorosa" (1984) von Peteris Vasks (geboren 1946) Notiz nahm.

Werke dreier Klassiker unseres Jahrhunderts präsentiert schließlich die CD, die auch Tschechien, Ungarn und Rumänien in die Landkarte von Kremers musikalischem Mosaik einfügt (TELDEC 0630-13597-2): Den beiden Violinsonaten von Erwin Schulhoff und Bela Bartok ist das Werk "Impressions d'enfance" (1940) des rumänischen Meisterkomponisten Georges Enescu (1881-1955) vorangestellt, und dies wohl nicht nur in der chronologischen Reihenfolge. Welche hinreißenden Mikro-Erinnerungsbilder einer östlichen Kindheit Kremer und sein ihn am Klavier sensibel begleitender Freund Oleg Maisenberg hier zu Gehör bringen, ist in der Tat un-erhört. Hätte Joseph Roth komponiert, nicht anders hätte er die Wehmut versunken-verklärender Erinnerungen gestaltet ...

Wiederum einen Orden für außerordentliche Verdienste um Kulturerschließung jenseits oberflächlichen Wohlklangs also für Gidon Kremer und seine Weggefährten, die uns mit dieser CD-Serie eindrucksvoll - und im Medium der Musik eben nicht belehrend! - vor Ohren führen, welch eine katastrophale Wirkung gerade für Österreich der Verzicht auf eine Ost-Erweiterung in kulturellem Sinn bedeuten würde.

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