Siegfried Loewe: Spuren des Lebens offenlegen
Das Buch „Versteckt und verschwiegen“ erzählt die Geschichte von Siegfried Loewe, dem sich erst nach vielen Jahren biografische Wahrheiten seiner Familie erschlossen.
Das Buch „Versteckt und verschwiegen“ erzählt die Geschichte von Siegfried Loewe, dem sich erst nach vielen Jahren biografische Wahrheiten seiner Familie erschlossen.
Die großen Geschichten schreibt das Leben selbst. Siegfried Loewe erzählt eine davon, in dem kürzlich erschienenen Buch „Versteckt und verschwiegen“. Es ist seine Lebensgeschichte und die seiner Schwester Rebecca. Als Kinder ostjüdischer Immigranten in Brüssel geboren, überlebten sie die NS-Zeit in der Obhut belgischer Widerstandskämpfer. Ihre Mutter hatte sie in einem Akt der Verzweiflung der Organisation „L’Enfant Caché“ (Das versteckte Kind) anvertraut. Sie selbst und ihr Ehemann wurden nach Auschwitz deportiert; beide kamen dort ums Leben. Die Kinder wurden nach Kriegsende in ein Waisenheim gebracht, ehe sie mit ihren künftigen Adoptiveltern nach Wien übersiedelten.
Erst als Student stieß Siegfried Loewe auf seine wahre Identität; die Adoptiveltern hatten darüber beharrlich geschwiegen. Es dauerte Jahrzehnte, bis er sich für die Publikation seines Lebensbildes entschied. Für die schwierige Erinnerungsarbeit zog er den Historiker Rudolf Leo bei („Der Pinzgau unterm Hakenkreuz“, 2013; „Bruck unterm Hakenkreuz“, 2015, Otto Müller Verlag). Aus der Kooperation ging ein Buch hervor, das die subjektive Sicht des erzählenden Ich mit der dokumentarischen Perspektive des Historikers (Passagen im Kursivdruck) eindrucksvoll verschränkt, die individuelle Lebensgeschichte in die übergeordneten Zusammenhänge reiht. Im Kern geht es um eine therapeutische Reise, um eine Identitätssuche im Spannungsfeld von Bangigkeit und Schmerz, von Revolte und Pragmatismus.
Getrennte Geschwister
In Schlaglichtern gewinnt das verlustreiche Familienschicksal Kontur. Loewes leibliche Eltern, das Ehepaar Grossmann, waren in den 1930ern von Polen nach Saarbrücken emigriert. Mutter Zlata stammte aus dem k.u.k. Kronland Galizien, Vater Chaim aus dem russischen Teil Polens. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten flüchtete das Ehepaar mit seinem achtjährigen Sohn Harry von Saarbrücken nach Brüssel. Dort wurden 1939 Siegfried und 1941 Rebecca geboren. Wie genau Harry († 2019) die Kriegszeit überlebte, ist nicht bekannt. Jedenfalls blieb er in Brüssel, heiratete und brachte es zu beruflichem Erfolg. Doch auch ihn traf die Schweigepolitik des Ehepaars Loewe. Man verheimlichte ihm den Umzug nach Wien. Sein Weg zur Wiederfindung der Geschwister war ein steiniger.
In einem Gespräch der Autoren mit der FURCHE gab es die Gelegenheit, ein paar Aspekte dieses Familiendramas zu diskutieren. Etwa dass Siegfried einen Zwillingsbruder hatte. Er hieß Max und starb wenige Tage nach der Geburt. Spürt man als allein gebliebener Zwilling, dass es noch eine andere Hälfte von einem gab? Loewe bejaht und meint weiters: „Der Tod von Max hat unser Leben in eine andere Bahn gebracht. Wären wir zu dritt im Kinderheim gewesen, hätten wir keine Adoptiveltern gefunden und wären vermutlich in Belgien geblieben.“ Das Ehepaar Loewe wollte nur ein Kind adoptieren, doch Zlata Grossmann hatte die Organisation „L’Enfant Caché“ gebeten, Rebecca und Siegfried nicht zu trennen. Daran hielt sich auch das Heim.
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