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20 Jahre Zirkel und Hammer

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Der Interzonenzug, der sich stolz „Sassnitz-Expreß“ nennt, hat Bamberg verlassen. Die nicht allzu zahlreichen Fahrgäste, die in München eingestiegen sind, lassen mich allein im Abteil. Während die Maschine, die Schwelle des Thüringerwaldes emporsteigend, ihre Geschwindigkeit etwas bremst und der Zug öfters anhält, merke ich, daß sich der Wagen langsam wieder zu füllen beginnt; die Reisenden fallen durch ihr hohes Lebensalter auf.

Probstzella — ein Meer roter Fahnen und von Staatsflaggen, schwarz- rotgold mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz. Gezählte 32 Leute steigen aus. Während andere Reisende die Koffer öffnen müssen, ist der Volkspolizist von auffallender Höflichkeit. In einer Minute ist die Amtshandlung vorbei. Scheu fragen mich Mitreisende, ob ich etwa einen Diplomatenpaß besitze. Der österreichische Paß, hier sehr selten gesehen, tut scheinbar dieselbe Wirkung. Das Erlebnis wiederholt sich einige Tage später bei einer Zugskontrolle; ich brauche den Paß nicht einmal zu öffnen. Die liebenswürdige Geringschätzung, welcher der Österreicher einst im deutschen Norden zu begegnen gewohnt war, ist einer scheuen Hochachtung vor dem Staat gewichen, der die Probleme, um die andere vergebens ringen, schon vor anderthalb Jahrzehnten gelöst hat. Draußen fangen Riesenplakate den Blick: „Das Glück wohnt in der DDR.“

Das altmodische Halle — das moderne Leipzig

Ein Architekturschüler, der Halle und das nahe Leipzig besucht, könnte eine Dissertation über die Wirkungen des Bombenkrieges auf das moderne Stadtbild schreiben. Halle vermittelt — von wenigen Ausnahmen abgesehen — das Bild einer alten und dabei schlecht erhaltenen Stadt. Enge, winkelige Straßen, durch die sich die Elektrische windet, dazu die Häuser von einer mehr grauen als ehrwürdigen Patina überzogen. Die Mietzinse sind niedrig, daher wird nichts repariert, erklärt man ganz offen.

Ein Beispiel für viele: der Besitzer eines zwar schmalen, aber doch mehrstöckigen Hauses in einem Stadtviertel in Nähe großer Gärten war gestorben. Der Erbe verweigerte die Annahme. Die Stadt bestellte einen Treuhänder und bot das Haus für ganze zweitausend Mark aus. Niemand kaufte

Nur wo die Bomben krachten (wie in der Nähe des Hauptbahnhofes) konnte man modern planen. Der Thälmannplatz mit Über- und Unterführungen auf mindestens drei Ebenen könnte einer Millionenstadt zum Vorbild dienen.

Leipzig — konträrer Gegensatz zu Halle. Leipzig litt furchtbar unter dem Terror der Bomben, darum ist es heute hochmodern. Die 27stöckige,

142 Meter hohe Universität beherrscht das Stadtbild, ähnlich der Lomonossow-Universität von Moskau.

Das Völkerschlachtdenkmal ist zu einer Stätte deutsch-russischer Freundschaft geworden und wird von ganzen Abteilungen von Rotarmisten besucht. Eine neue Ausstellungshalle in der Nähe stellt den Anteil der Russen an der Befreiung Deutschlands vom napoleonischen Joch ins gute Licht, während die militärischen Leistungen der Österreicher im Schatten bleiben. Es ist vielleicht ein kleiner Ausgleich, daß bei der Fortsetzung der deutschen Geschichte wohl die preußische Reaktion verurteilt wind, nicht aber das Metternich’sche System.

Dieses Nicht- oder Nichtmehr- kennen Österreichs zeigt sich auch auf dem Gebiete, auf dem Leipzig einst groß war und so gerne wieder führend werden möchte: auf dem Büchermarkt. Eine Ausstellung zeigt die erdrückende Pracht von Werken, wo man die leidige Politik vermeiden kann; etwa Kunstbücher in unwahrscheinlicher Schönheit. Leider ist Österreich ganz schwach vertreten, etwa durch eine Sammlung österreichischer Novellen, die in den letzten Jahren herauskam und in der auch linksbürgerliche Autoren vertreten sind. In den Lexika herrscht beschämende Einseitigkeit

Nichtwissen und Ničhtkennen

Was an den ostdeutschen Universitäten geforscht und gearbeitet wird, entzieht sich unserer Durchschnittskenntnis; an den Versuchsanstalten für Pflanzenkultur studieren Nordvietnamesen und Neger aus Mali, in Österreich — wahrscheinlich auch in der Bundesrepublik Deutschland — hat man von den dortigen Versuchen kaum eine Ahnung. Die hervorragenden Konzertprogramme im Lande von Bach und Händel sind unbekannt, während etwa das Bol- schoj-Theater in Moskau ein wohlbekannter Begriff für den Österreicher geworden ist.

In der industriellen Produktion befindet sich die „Deutsche Demokratische Republik“ nach eigener Angabe unter den zehn Spitzenreitern der Erde (nach einer westdeutschen Wirtschaftszeitschrift nimmt sie sogar den achten Platz ein), die österreichische Ausfuhr liegt unter unserem Export nach Finnland, Portugal oder Griechenland!

In einer vollen Woche sah ich ein einziges Fahrzeug aus dem Westen, einen Wagen mit Zürcher Kennzeichen. Das Land, in dem Goethe und Schiller wirkten, das Land der Naumburger Stifterfiguren und des Domes zu Quedlinburg entgleitet unserem geistigen Auge. Mitten in Europa entsteht auf der Landkarte ein 108.000 Quadratkilometer großer weißer Fleck: Die „DDR“ nach zwanzig Jahren unter Walter Ulbricht.

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