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DER SCHLAF DER WEISEN

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Aristide Briand hatte rechtzeitig davon Wind bekommen, daß in der bevorstehenden Nachmittagssitzung eines der wichtigsten Sonderausschüsse des Genfer Völkerbundes eine sich benachteiligt fühlende Macht heftige Vorwürfe gegen Frankreich erheben werde.

Briand wußte: nicht mit Unrecht. Er kannte sein Frankreich. Er litt selber schwer genug unter den Schwierigkeiten, die ihm seine Landsleute bei dem Bestreben bereiteten, die beiden Staaten endlich in ein vernünftiges, gutnachbarliches Verhältnis zueinander zu bringen.

Und nun kam ihm auch noch dieser Zwischenfall von unvorhergesehener Seite in die Quere!

Briand war in berechtigter Sorge. Zudem war der Vertreter Frankreichs in jenem Ausschuß ein cholerischer Heißsporn. Es konnte passieren, daß er auf den Angriff allzu hektisch erwiderte. Das mußte verhindert werden. Das von Anfang an baufällige Haus des Völkerbundes vertrug nicht gut einen neuerlichen Riß.

Also entschloß sich Briand trotz seiner sonstigen Überbür- dung und ungeachtet seines hohen Alters dazu, die Sache Frankreichs in jenem Ausschuß persönlich zu vertreten. Er berief den Delegierten zu sich und teilte diesem seinen Entschluß mit.

Als zur festgesetzten Stunde die Tagung beginnen sollte, war nur der Sitz Frankreichs noch leer. Doch — da ging die Tür auf, und zu aller Überraschung kam nun, schon stark vorgebeugt undiimit dem Taschentuch sich tJto.sSfhwF'ß.rAflffv Stirne trocknend, Briand herein und. schritt, wqhl vom: anstrengenden Vormittag her noch müde und überhaupt etwas traurig, zu seinem Platz.

Die Abgesandten erhoben sich kurz, um so den großen alten Mann Frankreichs zu ehren.

Der Vorsitzende erteilte das Wort dem Sprecher der gegnerischen Macht.

Dieser legte — vorbeugend — jetzt doppelt heftig los; denn er fürchtete die weltberühmte Rhetorik Briands, des gewiegtesten Florettfechters auf dem Genfer politischen Parkett. Die Sache Frankreichs lag heute ohne Zweifel in den bewährtesten Händen. Nur ein besonders fulminanter Angriff durfte sich einigen Erfolg versprechen. Der Redner mußte sich auf eine Meisterparade gefaßt machen.

Briand saß während der ganzen Anklage unbeweglich auf seinem Stuhl. Er hielt die Hände verschränkt im Schoß und sah

pausenlos darauf nieder, tief in Gedanken versunken. Nicht ein einziges Mal erhob er den Blick. Aber er merkte sehr wohl, schon an den Zwischenrufen, wie die Sympathien der überwältigenden Mehrheit sich dem Redner zuwandten. Briand wußte, es kam nun alles darauf an, ob es ihm gelang, Zeit zu gewinnen, kostbare Zeit! Es mußte in den allernächsten Tagen versucht werden, die heikle Angelegenheit leidenschaftslos hinter den Kulissen zu bereinigen. Sie vertrug nicht die Arena.

Der Ankläger steigerte sich immer mehr in den Affekt hinein, Als er endete, sich für den Beifall bedankte, hatte er mit Recht den Eindruck, das Spiel gewonnen zu haben.

Im Saal herrschte minutenlang eine beklemmende Stille. Die drückende Schwüle im Sitzungsraum kam ihnen allen nun doppelt zu Bewußtsein. Briand regte sich noch immer nicht. Der Vorsitzende fand es dennoch für selbstverständlich, sogleich Frankreich das Wort zur Entgegnung zu erteilen.

Aber Frankreich — schlief.

Schon stießen die Briand zunächst Sitzenden schmunzelnd einander an. Die Heiterkeit wuchs. Sie pflanzte sich unüberwindlich durch die Reihen hin fort, bis zum Widerpart. Eine Frankreich freundlich gesinnte kleinere Macht aber nutzte den Stimmungsumschwung zu einem Überrumplungscoup. Mit einigen leise gesprochenen launigen Worten beantragte der Sprecher die Vertagung. Der Vorsitzende ergriff gern diese ihm selbst willkommene Gelegenheit und brachte den Antrag zur Abstimmung. Der Ausschuß vertagte sich. (Nichts anderes hatte Briand beabsichtigt.)

"'Auf deü' Zehenspitzen entfernten sich diö belustigten Dele-' gierten, einer naęjt dem anderen, aus dem Sitzungsraum, den großen alten Mann Frankreichs und seinen wohlverdienten Schlaf der Obhut des Saaldieners anvertrauend.

Dieser setzte sich in einigem Abstand Briand gegenüber und behielt ihn unentwegt im Auge.

Nach einer angemessenen Weile erachtete Briand den Zeitpunkt für gekommen, um mit Anstand aufzuwachen. Den Saaldiener überraschte es einigermaßen, daß Briand sich so wenig über den Wandel in seiner Umgebung wunderte. Er strich sich schmunzelnd und mit beiden Händen über die Brauen, die Schläfen, die Haare, den Schnurrbart, er erhob sich, leicht schwankend, zog seine goldene Tabatiere hervor und wartete dem Saalhüter eine Zigarette auf. Diesem war, als ob Briand dabei ein Auge verkniffe.

Briand ging, sich mit dem Taschentuch frische Luft zufächelnd. Es sah aus, als schwenke er eine kleine Friedensfahne.

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